Leicht unterstellt man dem Rokoko neckische Laszivität. Und das, so will’s der Kanon, sollen die Kunstwerke, etwa von Jean-Honoré Fragonard, in Reinkultur repräsentieren. Natürlich steckt ein Fünkchen Wahrheit in diesem Klischee. Doch die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe erweitert unseren Blick auf diesen 1732 geborenen Meister.
Leicht könnte der kunstsinnige, männliche Betrachter ins Schwärmen geraten, wenn es ums Rokoko geht. Neckische Laszivität unterstellt man gern der galanten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Und das, so will’s der Kanon, sollen die Kunstwerke der Zeit, etwa von François Boucher oder Jean-Honoré Fragonard, in Reinkultur repräsentieren. Natürlich steckt ein Fünkchen Wahrheit in diesem Klischee. Aber als ein solches bügelt es eine Reihe von Facetten des Werks glatt, wie dem Besucher der Ausstellung „Fragonard – Poesie und Leidenschaft“ in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe recht zügig bewusst wird. In dieser ersten Einzelausstellung in Deutschland, die das Augenmerk auf die zeichnerischen Qualitäten des 1732 geborenen Künstlers legt, spielen Erotik und Sinnlichkeit maximal in einem Drittel der Schau eine explizite Rolle. Kuratorin Astrid Reuter steckt einen angenehm unaufgeregten und überaus erhellenden Parcours anhand von gut 80 Arbeiten ab, darunter gerade mal neun Gemälde, und zeichnet eine Künstlerpersönlichkeit, deren Lebensleistung weit über das prickelnde Vorführen von Kontrakten zwischen Voyeur-Betrachter und zumeist weiblicher Körperlichkeit hinausgeht.
Betörendes Papierweiß
Drei thematische Schwerpunkte hat Reuter gesetzt und mit Assoziativen Titeln überschrieben: „Natur und Geselligkeit“, „Sensibilität und Leidenschaft“ sowie „Inspiration und Poesie“. Den Auftakt bildet erst einmal eine filmische Einstimmung: Fünf Profis aus Wissenschaft und Museen begründen sehr treffsicher ihr Interesse an diesem begnadeten Zeichner und erzeugen Neugier auf das Werk. Die wird in den Vorräumen noch stärker entfacht. Denn schon vor der eigentlichen Ausstellung bekommt man im wunderbaren historischen Zeichensaal Einblicke in das grafische Schaffen der Zeitgenossen. Daran schließen sich vier erste, beispielhafte Blätter von Fragonard selbst an, die Themen und Techniken exemplarisch exponieren, bevor es dann in die eigentliche Schau geht. Sehr schnell offenbart sich beim Blick auf die wunderbaren Blätter eine Besonderheit des Schaffens des gebürtigen Südfranzosen aus Grasse, der zunächst vom Stilllebenbefreier Jean Siméon Chardin (1699-1779) unterrichtet, dann zu François Boucher (1703-1770) ins Atelier wechselte: Es ist betörend zu sehen, wie meisterlich Fragonard Zeichnungen aus dem Weiß des Papiers aufbaut. Vor einer Hauswand kniet ein junger Bursche unter dem Fenster seiner Angebeteten. Konturen scheinen aus dem Nichts die Körper in sanfter Eleganz mehr anzudeuten als zu formen. „Das Fenster“ aus der Rothschild Collection, entstanden um 1770 mit schwarzer Kreide und Pinsel in Braun, präsentiert natürlich die süßlichen Bäckchen, das leidenschaftliche zueinander Hingestrecktsein des Pärchens. Doch ist es dieses Mehr, das den Blick von den körperhaft-stilistischen auf die formalen Aspekte lenkt, ebenso wie im „Kuss“ der 1770er Jahre aus der Albertina, in der das Paar aus lauter Licht zu bestehen scheint.
Moderner Markt
Fragonard musste seine lange unbeachteten Revolutionen zwangsläufig und mit einer an den Alten, vor allem den Meistern des Barock geschulten Brillanz hervorbringen. Nachdem er den 1752 Prix de Rome der Académie gewinnen konnte und von Denis Diderot über den grünen Klee für das Historienbild „Jerobeam opfert den Götzen“ gelobt wurde, kopierte er in der Ewigen Stadt im Auftrag massenhaft kunsthistorische Vorläufer. Außerdem arbeitete er an Landschaften. Als er jedoch zurück kam und zwei Jahre später kleinformatige Genres im Salon präsentierte, hagelte es einen Totalverriss von eben jenem Vater aller Kunstkritik. Was Fragonard wohl nicht weiter beeindruckte, denn die Gesellschaft hatte sich verändert, und neue, reiche Auftraggeber traten auf den Plan, die bei ihm kauften, so dass er sich seine Unabhängigkeit bewahren konnte. So wenig er wirtschaftlich in Abhängigkeit leben musste, so wenig war er auf klassische Gattungen, etwa die Historie, fixiert. Insofern ist es nicht übertrieben, wenn Astrid Reuter zusammenfasst: „Fragonard ist der Prototyp des modernen Künstlers. Er hat sich auf dem gerade erst entstehenden freien Markt etablieren können.“ Weiteres Indiz hierfür ist eine neue Wertschätzung der Grafik. Es bilden sich spezialisierte Sammler, die sich ausschließlich das kleine Format leisten, es entsprechend gerahmt würdig zeigten, um ihren Stand zu repräsentieren.
Unbeachtet und unterschätzt
Fragonard spielt in diesem sich wandelnden System eine erfolgreiche Rolle. Ein weiterer Grund schien sein Vergnügen an der Provokation eines intellektuellen Spiels mit seinen Betrachtern gewesen zu sein. Ihre Themen allerdings sieht man den Bildern nicht so schnell an. Das verdeutlichen seine religiösen Bilder ebenso wie die ingeniösen Blätter zum „Rasenden Roland“ von Ariost, denen man Unrecht täte, wenn man sie einfach nur als Illustrationen einschätzte. Frei in jeder Hinsicht gibt es ein Werden der Körper aus Licht, und seine Vielfalt an Schraffuren setzte Fragonard dramaturgisch perfekt ein, um den Szenen eine höchstmögliche Dramatik zu verleihen. „Roland fesselt die Räuber“ und uns Betrachter mit dieser Szene aus den 1780er Jahren. Sein am Barock geschultes Gespür für Dynamik offenbart sich in einer extrem waghalsigen Schräge von links unten über das Knäuel der Delinquenten nach rechts oben, wo der Held an einem Seil zieht, um sein erobertes Bündel Bösewichter zu schnüren. Über allem ein schwarz dräuendes Wetter. Dabei wird erst gar nicht deutlich, was der Hauptdarsteller da angeht. Das Sichtbare und das Unsichtbare stehen in der Arbeit von Fragonard in einem spannenden Verhältnis, das die Augen nicht loslässt. Den Karlsruhern ist es zu danken, dass trotz der erotischen Bilder, etwa dem Münchner Meisterstück „Mädchen mit Hund“ (um 1770-1775) aus der Alten Pinakothek, jener vermeintlich sprühenden Sexualität nicht das Übergewicht gilt. Hier wird ein lange in Deutschland unbeachteter und unterschätzter Meister in seiner ganzen zeichnerischen und teilweise malerischen Bandbreite erlebbar: in seinem Erfindungsreichtum und einer schmackhaften Ausführung. Das befreit Fragonard, der selbst niemals das Künstlerklischee seiner Zeit gelebt hat, wenn man berücksichtigt, dass er, als er nicht zuletzt wegen des Revolutionsklassizisten Jacques Louis David an Marktrelevanz verlor, sich schlichtweg aus der Riege der Produzierenden verabschiedete, um nach 1792 konservatorisch am entstehenden Museum im Louvre mitzuwirken.
Bis 23. Februar 2014, Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen 10 bis 18 Uhr, Katalog 29,90 im Museum
Bildnachweis: Jean-Honoré Fragonard: „Der Kuss“, um 1775, Albertina, Wien, © Albertina