Viele Kunsthistoriker meinen, in Velázquez vollende sich die abendländische Kunstgeschichte. Der Maler von «Las Meninas» habe die beste Kunst überhaupt realisiert. Solche Urteile sind legitim. Gestern eröffnete eine monografische Ausstellung im Kunsthistorischen Museum, Wien. Es ist die erste große Retrospektive im deutschsprachigen Raum überhaupt. Nach einem fantastischen Wochenende in diesem wunderbaren Museum mit all diesen Spitzenwerken abendländischer Kunst war die Pressekonferenz der Höhepunkt einer Tour in die Superlative. Man verzeihe mein Schwärmen, aber selbst wenn ich mich dem Urteil der Kollegen nicht anzuschließen vermag, kann ich aus meiner Begeisterung keinen Hehl machen. Die im Rahmen der Möglichkeiten redigierte und ungekürzte Fassung meiner Rezension finden Sie daher hier.
Wien. Es gibt Momente, in denen die Zeit nicht mehr voranzuschreiten scheint. Ein erfülltes Jetzt, das alle Geräusche schluckt, keine Ablenkungen zulässt. Augenblicke, in denen man selbst verschwindet, weil das Gegenüber so derart präsent ist. Selbst, wenn es Malerei ist. Oder gerade dann? Über der Sprache, dahinter, davor – wer vermag das zu ergründen. Juan de Calabazas war einer der Hofnarren im barocken, absolutistischen Madrid. Sein Konterfei vermag genau diese Situation zu erzeugen. In überwältigender Einmaligkeit hat ihn Diego Velázquez verewigt. Es ist ein zentrales Bild in der außerordentlichen Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien, deren Kombinatorik wohl lange Zeit kluges Beispiel kuratorischer Machbarkeit abgegeben wird. Außerdem ist kaum ein Haus neben dem Madrider Prado weltweit dazu in der Lage, mit einem derartigen Bestand aufwarten zu können. Ganze 14 Werke des Meisters hat bereits König Philipp IV. nach Wien gesandt. Zwölf davon befinden sich heute noch dort.
Der Mann, der uns mit leicht unsicherer Mimik anschaut, scheint nicht in das Bild eines Bediensteten am Hause Habsburg zu passen. Einerseits offenbart sein bewegtes Antlitz eine Momenthaftigkeit, pointiert durch eine Präsenz erwirkende, helle Ausleuchtung, die zusammen mit den gefalteten Händen und dem Sitz auf dem Boden vollkommen im Hier und Jetzt aufgeht. Augenblickshaft und irdisch und damit dem Stand des Hofnarren gemäß. Vor allem im Vergleich zu den Darstellungen von Herrschern und Infanten, die sich in großer Zahl in der Ausstellung finden. Das dunkle Grün seiner Kleidung und die Kalebassen bezeichnen ihn andererseits eindeutig als subalternen Spaßkasper. Aber dann ist da die Freiheit der Geste, des Blicks, leicht unscharf wiedergegeben, die so erschütternd lebendig wirkt. Das gibt diesem längst vergangenen Menschen vielleicht nur aus heutiger Sicht eine Größe und Bedeutung. Eine malerische Intensität von Menschlichkeit, die wohl nur Velázquez zu realisieren verstand.
Bereits im Vorfeld war die Rede von einer Jahrhundertausstellung. Selbst wenn der Prado das Hauptwerk des 1599 geborenen Hofmalers von Philipp IV., «Las Meninas», nicht an die Donau geschickt hat, spiegeln Werke wie der Hofnarr von 1638, aber auch frühe Gemälde wie die «Anbetung der Könige» (1619), das größte Werk des damals 20-Jährigen, die übermäßige Qualität der Schau. Und natürlich auch «Prinz Baltasar Carlos zu Pferd» (1635), um eine Wegmarke in der Rezeption des spanischen Malers aufzustellen. Sieben Werke schickte der Prado quasi im Gegenzug für die Wiener Gabe zur Madrider Ausstellung über den Maler und die Familie Philipps IV. im vergangenen Jahr. Darüber hinaus bereichern sowohl die Florentiner Uffizien als auch das Museum of Fine Arts in Boston, die Staatliche Kunstsammlung Dresden, die Berliner Gemäldegalerie oder das Apsley House, London, dies unter anderem mit seinem «Wasserverkäufer von Sevilla» (1622), die Werkschau mit insgesamt 46 Gemälden. Sabine Haag, Generaldirektorin des Hauses, sprach vom Höhepunkt in der Ausstellungsgeschichte der Museums.
Diego Velázquez wurde in eine intellektuelle Familie in der damals reichsten und wichtigsten Handelsstadt Spaniens, Sevilla, geboren. Dass er bei dem eher konservativen Maler Francisco Pacheco (1564-1644) in die Lehre gehen konnte, ist daher keine Selbstverständlichkeit, zählte Malerei in Spanien damals noch zu den Handwerkstätigkeiten, im Unterschied zum Rest von Europa, in dem Künstler längst auf der Ebene von Dichtern unterwegs waren. Doch sein Meister war bestens vernetzt und musste erkannt haben, wen er da in der Lehre hatte. Immerhin vertraute er Diego 1618 seine Tochter als Ehefrau an. Die Zeit in Sevilla bildet den Auftakt der geschmeidig in die Gemäldegalerie integrierten Schau. In der ersten Sektion stehen sich, Spezialisten werden sich freuen, zwei Fassungen der «Madonna Immaculata» gegenüber. Gerade das Antlitz der Londoner Fassung zeigt die Nähe zur unmittelbaren Wirklichkeit des Malers, der nicht zu Idealisierungen wie seine italienischen Kollegen neigte. In dieser Abteilung sehen wir zudem «Bodegones», Wirtshausbilder, in denen er seinen früh ausgeprägten Blick für das menschlich Authentische beweist. Einfache (klar, die Frage, was denn schon einfach meinen kann, ist berechtigt…) Menschen als Themen, Musikanten etwa, wie im Bild der Berliner Gemäldegalerie aus den Jahren 1617-18, prägen die Zeit. Die Angetrunkenen sind dort auch Gegenstand moralischer Projektionen. «Lächerliche Gestalten», wie Schwiegervater Pacheco meinte, «die zum Lachen reizen sollten». Aber nicht nur, denn was der Lehrer verurteilte, wird im Werk von Velázquez zu einer Höhe geführt, die in der Geschichte der abendländischen Kunst einmalig ist: ein Realismus bei gleichzeitiger Vorführung der Möglichkeiten von Malerei durch die offensichtliche Exponierung der Technik.
Die Schau beschreibt den Bogen vom ersten Einfluss Caravaggios bis zur Faszination am Spätwerk Tizians und der absolut einzigartigen Inkorporation und Verarbeitung dieser Einflüsse hin zu dem Velázquez. Im zentralen Raum lässt sich diese Entwicklung an verschiedenen Bildern nachvollziehen. Ein intensives Helldunkel, das zwar in vielen Bildern auch weiterhin bestimmend bleibt, ergänzt eine eine offene Handschrift, in der die Konturen der Gegenstände aufgebrochen sind. Kuratorin und scheidende Direktorin der Abteilung Alte Meister, Sylvia Ferino, berückt die wie selbstverständlich wirkende Einfachheit, die aus den Bildern zu uns spricht. Es ist das Unvollendete und die Sprezzatura, die Leichtigkeit, die eine Melange des Unaussprechlichen und Unausdeutbaren bilden. Wie selbstbewusst in Bescheidenheit Velázquez mit Blick auf seine Malerei gewesen sein muss, zeigt etwa «Apoll in der Schmiede des Vulkan». Der von seiner Frau Venus mit Mars betrogene Metallarbeiter steht da und schaut in einer abwartenden Anspannung, die psychologisch so pointiert ist, dass man die innere Aggression des Düpierten erleidet. «Velázquez zeigt sich stiller, intimer, ohne das Pathos oder die großen Gesten mancher Zeitgenossen», beschreibt Ferino. Der Spanier scheint außerdem immer genau gewusst zu haben, was er tat. Maschinen sehen mehr, erläutert Sylvia Ferino: «Sie finden bei Tizian dauernd Abweichungen, wenn sie die Röntgenbilder anschauen. Er hat offenbar erst auf der Leinwand komponiert. So etwas gibt es bei Velázquez nicht.»
Meisterwerke ohne Ende. Die «Rokeby Venus» aus London etwa, der einzige bekannte weibliche Akt von Velázquez. Kein Wunder, denn Nacktheit gab’s der Inquisition wegen nur hinter geheimen Vorhängen. Hier offenbart sich das Spiel mit der Sichtbarkeit und der Malerei selbst. Der Spiegel gibt das Gesicht der ungewöhnlich schlanken Venus, die uns den Rücken zukehrt, nur verschwommen, aber irgendwie glücklich anmutend wieder. Und sie schaut ungewöhnlicherweise uns an, während wir versuchen, sie zu erkennen, doch zu verschwommen ist ihr Antlitz. Und ist es überhaupt eine Venus? Typisch, diese Vieldeutigkeit. Damit, dass seine Themen oft gar nicht fixiert sind, sondern meistens in der Schwebe bleiben, überragt der Maler alle vor ihm und viele nach ihm.
Die dreigeteilte Ausstellung legt dar, mit welcher Intelligenz er es schaffte, das Bild des Hauses Habsburg nach außen zu prägen. Hier öffnet sich ein Kabinett auch auf die Tragik dieses Herrschergeschlechts, das durch innerfamiliäre Heiraten sicher das eine oder andere genetische Problem erzeugte. Davon kündet nicht nur der frühe Tod des Infanten Baltasar Carlos, der in einem Gemälde mit einem Zwerg (1631/32) zusammen zu sehen ist. Spanien hatte sich im 17. Jahrhundert ganz allgemein verausgabt. Die überseeischen Kolonien konnten nicht mehr so brutal ausgepresst werden wie in der Zeit davor. Und die Habsburger schafften es nicht mehr, ihre Macht durch geschickte Bünde zu festigen – sieht man einmal von der Heirat María Teresias mit Ludwig XIV. ab. Die Tochter Philipps IV. aus erster Ehe malte Velázquez 1652/53. Letztlich ist Spanien Vorbote des sterbenden Absolutismus. Und in der Malerei Velázquez kündigt sich auf eine ganz eigene Weise das Ende des Barock an. Manche Interpreten reden von Vorwegnahme des Impressionismus. Mag sein, doch ist es vor allem die Unbestimmtheit, die den Betrachter sprachlos macht und diese Malerei des 1660 verstorbenen Künstlers eben so ungreifbar und innovativ erscheinen lässt. Und wenn etwas an den vielen Beteurerungen und Ergebnissen der Kunsthistoriker dran ist, dass wir niemals mit unseren Deutugen zu einem Ende kommen, wie es die Hermeneutiker meinten, dann ist Velázquez ihre Galionsfigur. Aber jetzt haben wir genug gelobt. Es liegt an jedem selbst, nach Wien zu fahren. Wer die Tour unternimmt, wird es sicher nicht bereuen.
Bis 15. Februar, di. bis so 10-18 Uhr, do. 10 bis 21 Uhr im Kunsthistorischen Museum Wien, Maria-Theresien-Platz, zu sehen. Der ausgezeichnete Katalog kostet 39,95 Euro.