Edgar Degas wurde stets als Maler von spontanen Ballerinen-Szenen oder Pferderennen dem Impressionismus zugeordnet. Andreas Eiling von der Staatlichen Kunsthalle, Karlsruhe, hat nun den Beweis erbracht, dass der 1834 geborene Maler aus gutem Hause eher ein Erneuerer oder Revolutionär der Historienmalerei und ein Künstler gewesen ist, der sich stets eher mit den Mitteln der Kunst und Malerei selbst in Form höchst kunstvoller Kompositionen auseinander gesetzt hat. Andererseits muss nun auch die Frage gestellt werden, was in Zukunft vom Impressionismus übrig bleibt, wenn … Nun, das wiederum wird Gegenstand eines eigenen Artikels.
Sie bewegen Reisebusse, sorgen für Schlangen an den Kassen und sind ganz allgemein seit ewigen Zeiten die Lieblinge des Publikums: Die Impressionisten formulierten im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich die erste wirklich radikale Abkehr von der starren Haltung akademischer Lehre. Mit Eugène Delacroix ging es spätestens los. Auf dem Pariser Salon stellte dieser Wegbereiter regelmäßig aus und erregte die Gemüter mit einer farbkompositorischen Bildauffassung, die sich von feinster, die Handschrift negierender Schichtenmalerei verabschiedete. Mit den Künstlern der Schule von Barbizon wurde dann das Malen unter freiem Himmel entdeckt, und die Impressionisten trieben das Spiel auf die Spitze, indem sie der «Impression», dem Eindruck, dem Momentanen, dem Spontanen immer noch stärker huldigten. Man rufe sich etwa Claude Monets «Impression – Sonnenaufgang» (1872, Paris, Musée Marmottan Monet) ins Gedächtnis.
So weit, so klischeehaft und eigentlich gar nicht gut. Aber endlich, die Gewissheiten kommen mittlerweile ins Rotieren, doch der Begriff, der ja eigentlich wenig schmeichelhaft 1874 vom Kunstkritiker Louis Leroy verwendet wurde, scheint übermächtig zu sein. Dagegen sind Projekte wie die Ausstellung «Degas. Klassik und Experiment» ein Segen. In der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe konnte man sich auf eine längst überfällige Neubewertung des Werks anhand der Bilder selbst einlassen. Der Parcours belegte: Genauer hinsehen ist Pflicht, denn der 1834 in eine Bankiersfamilie geborene Maler, der an der École des Beaux Arts studierte und sich frei von materiellen Sorgen entfalten konnte, ermalte sich eine reflektierte Position, in der akademische Traditionen auf den Prüfstand gehoben, nicht aber, wie man es von den Impressionisten meint, negiert wurden.
Es gibt mit Blick auf das Werk des Malers eine Reihe von Indizien, die den Betrachter zur Differenz nötigen. Zum einen verehrte er Jean-Dominique Ingres, die Verkörperung des Akademismus schlechthin. Aber genauso liebte Degas dessen Antipoden Delacroix. Doch erst der Blick auf die Bilder belegt die Schlagkraft der These von Andreas Eiling. Knappe 130 Arbeiten sind in der Schau zu sehen. Sie erstrecken sich von der frühen Zeit der 1850er Jahre, in denen er der Frührenaissance und Ingres mit linear betonten Porträts huldigte, bis ins Spätwerk, Mitte der 1890er Jahre. Und die Ausstellung bot eine ganze Reihe von höchstwertigen Arbeiten, anhand derer der Thesencheck der reinste Genuss war. Das Kunsthaus Zürich schickte ein «Damenbildnis» (Kopie nach Giovanni Francesco Caroto) von 1861/62. Degas bleibt nicht nur im Maßstab, sondern auch mit Blick auf die Komposition und auf das Antlitz nah bei diesem Schüler von Andrea Mantegna, der von 1431 bis 1506 lebte. Doch sowohl das Kleid als auch der Hintergrund der Halbfigur sind recht frei interpretiert, die Flächen malerisch aufgelöst, geradezu eine Ankündigung von späteren Ausdrucksweisen, die Degas erprobte, um klassische Bildaufgaben geradezu zu renovieren. Aus München reiste die sieben Jahre später entstandene «Büglerin» (1869, Neue Pinakothek) an. Man könnte meinen, dass hier der spontane Blick auf Menschen aus dem einfachen Milieu der Arbeiter wiedergegeben sei. Doch bei der Arbeiterin handelt es sich um Degas‘ Lieblingsmodell Emma Dobigny. Sie schaut den Betrachter direkt an, aber die Szene entbehrt jeden Realismus. Die bügelnde Schöne ist umgeben von beinahe reiner Malerei. Das sind die Stoffe, die weiß und mit luftigem Pinselduktus auf die Leinwand gehaucht wurden. Dampf, Hitze, Beschwernis – das sehen wir hier nicht, sondern wir betrachten Malerei, und die Wäsche ist nur der Anlass. Wie sonst sollten sich die frech stehengelassenen Konturen ihres linken Arms erklären? Diese offensichtlichen Pentimenti, die ihre Entsprechung auch in der anderen Hand finden, sollen uns vielleicht daran erinnern, dass dieses Bild hier von einem Menschen erfunden und gemalt ist und mit der Wirklichkeit außerhalb nicht viel zu tun hat.
Edgar Degas erfüllte somit nur oberflächlich die Forderung nach dem unmittelbaren Wirklichkeitsbezug, den der Kunstkritiker und Romancier Edmond Duranty erst sieben Jahre später als Appell formulieren sollte, nämlich die Darstellung eines Individuums in seinem Umfeld und mit seiner durch die je verschiedene Arbeit geprägte Physiognomie. Doch so ganz passt dieses Realismusgebot auf Degas eben nicht. Denn der arbeitete unter anderem mit Modellen. Es treten jedoch noch eine ganze Reihe formaler Kriterien hinzu, die einerseits den Realismus, andererseits den Impressionismus im wahrsten Sinn unterlaufen, und dies obwohl Degas beinahe an allen Impressionistenausstellungen teilnahm. Die Karlsruher Ausstellung wartete mit einer ganzen Reihe von Kopien auf. Etwa die «Reiter (Kopie nach dem Parthenon-Fries)» von 1855. Das sind Bleistiftzeichnungen, ganz der Umrisslinie verpflichtet, wie übrigens auch die vielen Tänzerinnendarstellungen, von denen einige überaus delikate Stücke in der Ausstellung zu sehen waren. Besonders hervor sticht das schmale Querformat «Tänzerinnen im grünen Zimmer» (1879, wahrscheinlich um 1890 überarbeitet, Detroit Institute of Arts). Da ist es nicht nur neckisch, wie eine der Ballerinen ihren Ballettschuh schnürt, in dem sie sich’s leicht macht und den linken Fuß auf einen Kontrabass stellt. Wenn man hier einmal die formalen Bezüge zwischen den richtungsangebenden Vektoren verfolgt und rekonstruiert, also die Lineamente aus Armen, Beinen, Fußstellungen, gebeugten Rücken und den anderen Bildgegenständen in ihrem je unterschiedlichen Zusammenklang untersucht, dann wird offenbar, dass eine derartige Bildordnung nichts von der Willkür oder Zufälligkeit eines dynamischen Moments besitzt. Die Bewegung in dem Bild ist schlicht das Resultat einer höchst komplexen In-Bezug-Setzung der Dinge zueinander – ganz wie in den besten und lebendigsten Werken des Barock. Nur sieht man hier noch etwas anderes, nämlich die Rezeption der extremen Perspektiven japanischer Ukyio-e-Farbholzschnitte. Selbst wenn die Sammlung von Degas nicht mehr existierte, weiß man doch, dass auch dieser Maler jene japanischen Meisterstücke gesammelt hat und sich von ihnen beeinflussen ließ.
Die Pferde des Parthenon-Frieses wiederum tauchen viel später in den Rennbahn-Szenen wieder auf. Deren Seitenansichten erinnern darüber hinaus an die Körperauffassung von Tieren aus Schlachtengemälden von Paolo Uccello, die Degas übrigens ebenfalls kopiert hatte. Und wie kalkuliert artifiziell, radikal geraderzu die «Jockeys vor dem Start» (1878/79, Barber Institute of Fine Arts, Birmingham)! Diese Arbeit ist nicht nur Zeuge einer enorm konfliktfreudigen Komposition. Man beachte den Mast, der ohne Anfang und Ende ein Drittel des Bildträgers rechts von der übrigen Darstellung separiert. Und darin quasi den Jockey, der als einziger sein Antlitz offenbart, einsperrt. Überhaupt handelt es sich hier um ein weiteres formales Meisterstück, das zeigt, wie der Maler Kommunikationssituationen von vornherein ausschließt, indem er – ganz ähnlich wie in seinem «Baumwollkontor» – keine Bezüge der Figuren untereinander formuliert. Die fahle Sonne verweist auf einen weiteren Aspekt. Letztlich bremst Degas alle Affekte, wenn er die Oberfläche auf eine Weise mattiert, so dass das Bild beinahe schon an ein Fresko erinnert. Er erreicht dies durchs Experiment. Wohl kaum ein anderer Künstler seiner Zeit begab sich ins Labor der Materialien und analysierte neue Techniken derart umfassend. In diesem Fall malte er mit Ölfarben, Pastellkreiden und so genannter Essence, das sind entölte und stark mit Terpentin verdünnte Farben.
Diese Ausstellung schließt in Karlsruhe an die Untersuchungen zum Werk Camille Corots im letzten Quartal 2012 an, der früher als Vorläufer der Impressionisten gehandelt wurde und seit der Schau in der Staatlichen Kunsthalle in einem anderen Licht gesehen wird. Edgar Degas muss nun gleichfalls mit anderen Augen betrachtet werden. Vielleicht hat MaryAnne Stevens Recht, wenn sie in ihrem Aufsatz über das ambivalente Verhältnis zwischen Degas und Manet abschließend behauptet, dass «für beide die Hauptaufgabe der Kunst nicht mehr vorrangig in der Beschreibung der äußeren Welt, sondern vielmehr in ihrer Zurückführung auf formale Eigenschaften [bestand].» Vielleicht darf, in Erweiterung zu dieser Behauptung, die Kunst des 19. Jahrhunderts und ihr Begriff nicht mehr von den scheinbaren Avantgarden aus gedacht werden (der Autor arbeitet gerade an einer entsprechenden Untersuchung). Allein Freundschaftskonstellationen wie das Miteinander von Edgar Degas, Henri Fantin-Latour, Édouard Manet, James Tissot und James Abbott McNeill Whistler zwingen zum genaueren Hinsehen. Der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und ihrem Kurator Andreas Eiling sei Dank gesagt, dass sie wieder einmal den Anfang macht und diese eher im Reich der Wissenschaft beheimateten Thesen in Form einer herausragend einfach nachvollziehbaren Argumentation für ein großes Publikum aufgearbeitet hat.
Bis 15.2., Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Di – Fr. 10 – 18 Uhr, Sa – So 10 – 19 Uhr, +49(0)721/926.2696, info@kunsthalle-karlsruhe.de. Kat. 300 S., 39 Euro im Museum