Zilla Leutenegger (Jahrgang 1968) malt in den Raum, installiert multimedial und verstört durch die Distanz, die sie mit ihrer Arbeit erzeugt – die zugleich distanzlos ist. Ein altes Thema greift sie auf: Ist nicht etwa alles vermittelt? Und ist nicht das Natürliche, Echte eine Fata Morgana? Welche Rolle spielt die Biografie für die Kunst? Diese und ähnliche Fragen stellt die Schweizerin in ihrer Ausstellung „Ring My Bell“ in der Pinakothek der Moderne, die ich Ende Juni besucht habe.
Es ist die Bitternis der Erkenntnis, dass es frei nach Jacques Derrida keine Natur gebe, sondern bloß deren Effekte: „Entnaturalisierung und Naturalisierung“. Jedenfalls diejenigen, welche nach Ursprünglichkeit von Erfahrung und sich selbst lechzen, werden diese Tatsache als bittere Pille verschmerzen müssen, denn weder authentisch noch ohne eine Medialisierung sind – sollte das Gesetz stimmen – sämtliche, das Leben betreffende Sachverhalte, also auch die Kunsterfahrung. Mit Wehmut kann man angesichts dieser Weisheit an alle Reinheitsfanatiker von Konkreter Kunst bis Minimal Art, aber gleichfalls auch an all die Grenzüberschreiter wie Joseph Beuys oder an die Netzkünstler der späten 1990er Jahre denken. All diese Behauptungen einer Ursprünglichkeit erscheinen in diesem Licht nur mehr als Sehnsuchtsausdrücke. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Wir sind aus dem Paradies, in dem direkte Bedeutung und Wirkung herrschten, vor Urzeiten vertrieben worden und haben es nie akzeptieren wollen. Und wenn Zilla Leutenegger eine über 400 Quadratmeter große Fläche in der Pinakothek der Moderne bespielt, sollte man derlei theoretische Gebilde besser mitbringen, sonst verliert man sich gegebenenfalls in der Oberfläche dieser wunderbaren Arbeiten und unterstellt der Schweizerin vielleicht sogar unangemessenen Zynismus.
Zilla Leutenegger, Jahrgang 1968, bildete aus sieben bereits existierenden Installationen eine große und großartige. In diesem Jahr entstand die Arbeit „Ring My Bell“, die der Ausstellung den Titel gab. Anita Ward, eine 1956 geborene Sängerin aus Memphis, ist wohl nur durch diesen Hit 1979 eine bekannte Disco-Queen geworden. Eigentlich hatte die Psychologin mit einem Abschluss vom Rust Colloge in Holly Springs, Mississippi, einen Job als Lehrerin. Außerdem agierte sie als Sängerin. Diese Südstaatenschönheit nahm gerade eine Scheibe auf, als der Besitzer des Plattenlabels drängte ihr den Song auf, den eigentlich ein anderer singen sollte. Der hatte den richtigen Riecher. Immer wieder wird dieser Hit seitdem in Remixes veröffentlicht. Eine treffliche Parallele zum Thema der Ausstellung. Ward wollte weder Disco noch den Song. Sie realisierte ihn und wurde damit berühmt: gelebt von anderen. Jetzt schaut man am Eingang zu Leuteneggers Schau auf eine ziemlich gewöhnliche, quadratische Lampe, wie sie sich millionenfach an Hauseingängen befindet. Und wie in diesen Zugängen sieht man auch hier Insekten sterben. Deren Bemühungen ums Licht projiziert die Künstlerin mit einem Beamer per Maske passgenau auf das Allerweltsleuchtgerät. Übrigens sind derartige „Bespielungen“ von Dingen eine Spezialität von Leutenegger. Man hört also den Song und sieht das vergebliche Mühen der virtuellen Insekten in diesen ehrwürdigen Museumsräumen. Grotesk. Und so befremdend, dass man nicht vergisst, welche Bedingungen zur Distanznahme uns seit Derridas Erkenntnis eingepflanzt sind.
Zilla Leutenegger hat die Bewohnerin Z. ersonnen, mit der die Wohnung belebt wird und vor Ort den Grundriss skizziert: „So könnte ich mir vorstellen, zu wohnen“, sagt sie. In der Küche sieht man auf dem Tisch einen Plattenspieler. Dort legt auch jemand auf. „Dort findet die Suche nach dem besten Song für den Tag statt.“ Übrigens ist dies die Überführung einer von der realen Künstlerin gelebten Zeit in ein Werk. Der Grundriss legt einen Rundgang nahe, der hier an der Lampe beginnt und in der Bibliothek endet. Diese Anordnung der Nutzungsorte entspricht übrigens dem Verhalten der Künstlerin. Schlaf- und Badezimmer bleiben für den Zutritt versperrt, aber ähnlich wie in Hitchcocks berühmter Szene in „Psycho“ kann man von außen der duschenden Z. zusehen. Dass in fast jedem Raum ein eigener Sound zu hören ist, begründet die Künstlerin mit der Tatsache, dass es „in einer Wohnung nie ganz ruhig ist“. Im Büro kann der Betrachter Rückschlüsse auf das Leben und die Profession von Z. schließen. Das Alter Ego der Künstlerin ist auch eine. Sie sitzt dort an einem Schreibtisch vor zwei Monitoren und ist umgeben von Kunstwerken, die wiederum von Leutenegger stammen. „Ich wollte, dass Z. mit Kunst lebt. Sie sammelt Kunst. Sie hat sich kultiviert, das bereichert ihr Leben.“
Das ist nicht mehr Richard Hamiltons „Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?“ (1956), jene wunderbare Collage mit Staubsauger und Bodybuilder, aber man kann getrost an diesen Vorläufer europäischer Pop Art denken. Vor allem formal ist ja alles ganz anders. Weiße Wände dominieren. Die einzelnen Settings sind stets mit schwarzer Dispersionsfarbe in grobem Umriss durch die Künstlerin selbst auf die Wände gebracht worden. Dabei konnte sie gleichsam mit den Inhalten spielen. Kuratorin Inka Graeve Ingelmann, Referentin für Fotografie und Neue Medien an der Pinakothek der Moderne, bekommt daher an analoge Kameras erinnernde Zeichnungen ins Regal gelegt. Bezüge zu lebenden Personen sind gewollt. Zum Zeichnerischen tritt das Video hinzu, das der Abstraktion in Schwarz und Weiß scheinbar reale Farbe zurück gibt. Etwa in „Ring My Bell“ am Eingang oder im Büro, wo man eine Stadtvilla in São Paulo von der gegenüberliegenden Straßenseite vollkommen unspektakulär beobachten und sich über das Gezwitscher der Vögel an diesem sonnigen Tag freuen kann. Und dann sind da noch diese schablonierten Videos, die Effekte ermöglichen, die den Betrachter immer wieder ein Staunen abnötigen. Vor einer Wand in der „Bibliothek“ steht der ikonische „Lounge Chair“ von Charles und Ray Eames. Sein Schatten an der Wand ist merkwürdig anders als der Stuhl in der dreidimensionalen Wirklichkeit, denn Zilla Leutenegger projiziert ihre Kunstfigur Z. nur im Schatten auf die Wand, rauchend. Das ist selbst wieder beinahe schon zu philosophiegeschichtlich überfrachtet, denn wer dächte nicht an Platons „Höhlengefängnisgleichnis“?
Allerdings muss man nicht so weit gehen. Und man muss das Setting auch nicht so dramatisieren. Es gibt eine ganze Reihe einfacher Fragen. Warum etwa ist Z. immer allein? „Ich arbeite immer allein. Z. ist nicht einsam. Es gibt keinen Dialog. Es sind Momente, wenn sie mit ihren Tätigkeiten allein ist.“ Und warum solch ein Luxusmöbel? „Das kennt jeder, da brauchte ich mir keinen Kopf zu zerbrechen. Man lehnt sich einfach zurück“, antwortete Leutenegger. Die Künstlerin zitiert mit der normativen Kraft des Faktischen also eine essentielle Unmöglichkeit von authentischer Individualität in einer scheinbar unabänderlichen Situation intellektueller Unmündigkeit, so ähnlich wie es Platon nahe legt. Für Zilla Leutenegger ist dieses Setting auch ein Spiel, im Museum zu wohnen. Doch ist sie keine Zynikerin. Ihr geht es nämlich auch ums Realisieren: „Kunst machen, heißt Entscheidungen zu fällen. Und dabei gibt es kein ‚Richtig‘ und ‚Falsch‘. Das muss man dann aushalten. Es ist ein Vermitteln, dessen, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen.“ Selbst, wenn das alles vermittelt geschehen sollte.
An jeder Stelle von Zs. Luxuswohnung lauern die Fallen der Biografie, die Tücken externen Wissens. Und der Betrachter hat sich zu entscheiden. Es gibt da eine Treppe. Darunter sitzt Z. und hat einen Hund dabei. Ganz so wie Zilla Leutenberger als Kind, die mit ihrem damaligen großen Vierbeiner dort unterschlüpfte. Diese Geschichten kennt der Besucher natürlich nicht. Er sieht aus dem Mobile im Wohnzimmer vielleicht nur die Buchstaben A, I, L und Z. Dass sie jedoch „Zilla“ ergeben, in Primär- und Pastellfarben daherkommen und damit zwar De Stijl und Alexander Calder zitieren, aber etwas Anderes signifizeren, ist das Spezialwissen, dass sich aus dem Werk selbst nicht direkt ablesen lässt. Jetzt könnte man meinen, dass Leutenegger dieses hippe Ambiente inszeniert, um zu einer radikalen, wenn auch subtilen Kulturkritik der Medialisierung unserer Alltage anzuheben. Doch der Eindruck bestätigt sich nicht. So ähnlich ironisch wie Hamiltons Collage erscheint das Bejahende, das aus diesem wohltemperierten Appartement mit Einbrüchen von Realität über den Betrachter kommt, wenn er durch die große, weiße Leere wandelt. Es gibt eben kein Selbst, sondern nur dessen Effekte: Wir haben es alle in der Hand. Vielleicht liegt darin der Trost dieser merkwürdig distanziert-distanzlosen Kunst.
„Ring My Bell. Zilla Leutenegger“
Pinakothek der Moderne
Barer Straße 40
D-80333 München
bis 4. Oktober 2015
Di-So 10-18 Uhr, Do bis 20 Uhr
Zur Ausstellung ist ein Künstlerbuch in limitierter Auflage (24,90 Euro) erschienen.
Orchestrieren kann man die Rezeption der Ausstellung im Breitwandformat mit der Lektüre von Judith Butler: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of „sex“. London (Routledge) 1994, Platon Werke IV. Herausgegeben von Gunther Eigler, bearbeitet von Dietrich Kurz nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 21990, Berhard H. F. Taureck: Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Frankfurt/Main (Suhrkamp Wissenschaft stw 1666) 2004, Hans Zitko: Kunstwelt. Mediale und systemische Konstellationen. Zgl. Fundus-Bücher 191 hrsg. v. Jan-Frederik Bandel und Harald Falckenberg. Hamburg (Philo Fine Arts) 2012