Die kommunikative Situation zwischen Hund und Mensch ist etwas Besonderes. Darüber durfte ich nachdenken, weil mir Kirsten Klöckner, Künstlerin und Herausgeberin von Editionen mir die Gelegenheit dazu gab. Sie gestattete mir dankenswerterweise, den Auftragstext auch auf weisskunst.de zu veröffentlichen. Es ist also nicht nur so, dass etwa das Werfen von Stöckchen stupide Wiederholungstat zweier Bordsteinkantenbieger ist, sondern viel mehr als das. Warum ich das erkennen konnte? Weil ich es mit meinem Hund anders erlebte und das Spiel eben bei anderen Hundebesitzern teilweise mit Neid beobachten durfte.
Das Stöckchen und die Kommunikation zwischen Hund und Mensch
für die Abteilung „Brings“ im „Gästezimmer“ der Edition Klöckner
In Memoriam Patty Pointer
Wer niemals mit Hunden gelebt hat, wird beim Nachdenken übers Stöckchenwerfen schnell naheliegende Assoziationen entwickeln und ins Klischee verfallen. Geht nicht anders. Denn das sieht ja auch immer so seltsam aus: Stets aufs Neue und ohne Unterlass werfen Frauchen oder Herrchen Stöckchen oder Bällchen, und Hündchen, nimmermüde, rennt, apportiert, rennt, apportiert, rennt, apportiert. Wahrhaft ein Zwang, sogleich an den Mythos von Sisyphos zu denken. Beim Zuschauen erleidet man Tantalos-Qualen. Der Wunsch taucht auf, diesen Vorgang zu stoppen, aber das verbietet einem die Freiheit des anderen, selbst wenn der oder die mit seiner oder ihrer Töle nerven und man eigentlich nur kurz im Park die Frühlingsruhe genießen oder seinen morgendlichen Fitnesslauf absolvieren wollte. Das ist die eine Seite, das Abteil derer, die zwar auch leben, aber eben ohne Hund, was nicht dasselbe ist, als mit einem Hund zu leben. Was also der hochtechnisierte, vierbeinerlose Städter, ansichtig des Hunde-Menschen-Tuns, imaginiert, wenn er bei seinen Freiluftaktionen mit der Smartwatch während seiner Leibesübungen die Datenbanken der digitalen Körperfresser mit ziemlich persönlichem Zeugs füttert, um den Versicherungsunternehmen bei weiterer Elaborierung des Krankenkassensystems eine enorm treffsichere Waffe gegen ihn in die Hände zu legen, das gibt es bei dieser Tätigkeit, wird sie einmal einer Tiefeninterpretation unterworfen, in keiner Weise. Hundemensch und Menschenhund sind nämlich, frei nach Friedrich Schiller, nur dort genau solche Mischwesen, wo sie sich im Stöckchenspiel vereinen. Zu diesem seltsam monotonen Sport werden nicht einmal Zeitmessgeräte zurate gezogen, um eine sportliche Spannung qua tabellarischer Dokumentation im eigenen Gesichtsbuchprofil aufzubauen. Der Hunde-User nutzt außerdem niemals eins dieser Zählgeräte, wie sie Zugbegleiter und Museumsaufsichten einsetzen, um ihre Kunden numerisch zu erfassen, also um das tägliche Quantum eines Lauf-Finde-Bring-Erfolgs zu erfassen. Nein, das Ganze ist von außen betrachtet etwas Literarisches und an den Sehnsuchtsorten im öffentlichen Raum bisweilen ein Ärgernis. Doch aus der Sicht des Hundemenschen sieht das ganz anders aus. Gehe ich in den Park und habe meine einskommafünf Stunden Mittagsrunde vor mir, trainiere ich nun keineswegs meinen linken Wurfarm, damit ich Zahlen habe, mit denen ich einen runtastischen Spaziergang in meine Online-Peergroup-Plattform posten kann, um damit die nächsten 157 Gummipunkte im Rahmen des smarten und stets globalen Spiels „Wer ist das dümmste Marketing-Target“ gewonnen zu haben. Es entrollt sich hingegen ein elaboriertes Kommunikationsprojekt, das einerseits die Voraussetzung hat, dem Tier möglichst viel Bewegung zu verschaffen, andererseits die Hund-Mensch-Bindung zu stärken, und vielleicht sogar drittens dem Hund im steten Erneuern des Abhängigkeitsverhältnisses zu signalisieren, wer der Rudelboss ist und bleibt. Ach ja, und außerdem lernt man stets voneinander sowohl motorisch als auch intellektuell, ja ganze juristische Bezüge hinsichtlich des Vertragswesens ließen sich vom Fallbeispiel eines Morgenwurfs abstrahieren. Das sind absolut praktische Ziele und Zwecke, und wer in diesem Kontext über das Vergebliche allen Tuns nachdenkt, ist viel zu verkopft. Ja, denn Stöckchenwerfen ist reine, glasklare Kommunikation zwischen Kohlenstoffeinheiten auf zwei und vier Beinen. Also mitnichten so etwas Lebensfernes wie Pixelschubserei oder elektrisch animierte Elektronenstimulanz von umweltzerstörenden Materialien im schlankrechteckigen Hosentaschenübergrößenformat.
Manchmal jedoch ist mit Blick aufs Stöckchenwerfen der Wunsch der Vater der Gedankenspiele. Meine längst verstorbene, inniglich geliebte Hündin Patty, ich brauche – kein Witz – nur an sie zu denken, und die Tränen der Sehnsucht fließen, zählte zu der auserlesenen Spezies der Jagdtiere. Ein aus Spanien stammender edler Straßenhund der Rasse „English Pointer“, Fellfarbe „liver“, kein perfekter Körperbau gemäß Zuchtmerkmalshandbuch des FCI, aber eine Beautyqueen. Dieser Vorstehhund, der seiner Auffassung nach kein orthodoxer zu sein brauchte, denn er tat alles andere, als auf die Beute in rassetypischer Starre zu zeigen, hatte stets seinen eigenen Kopf – auch mit Blick auf den bevorzugten Freizeitsport von Menschenhunden und Hundemenschen. Dennoch machte sie mich stolz, wenn sogar „les chasseur“ in der Provence sie bestaunten für ihre Anmut, und mir war es dann egal, wenn sie die Nase bei der Mitteilung rümpften, dass das Tier niemals professionell als Jägerin arbeite und arbeiten werde. Also aus Menschensicht, denn Patty war auf jeden Fall ein absoluter Laufprofi, selbst wenn ihre Enten-, Fasan- oder Karnickelhetzjagden stets ineffizient und vor allem erfolglos verliefen. Sie war wunderbar exaltiert und bisweilen griechisch-antik in ihrer Hybris, sich gegen die Götter aufzulehnen, etwa wenn sie sich nicht zu schade war, in ihren jungen Jahren auf eine Herde mäßig eingezäunter Jungbullen bellend loszugehen, was mich und einen Freund damals, bei einer unvergesslichen Wanderung aus dem winterweißen Spreewald heraus, in eine lebensbedrohende Bredouille brachte. Ich bin der festen Überzeugung, dass die gewagtesten Abenteuer meiner Zeit als Erwachsener durch Patty inszeniert wurden. Wir haben sie alle irgendwie gemeistert.
Bevor sie also aus dem Tierheim in die damalige Kleinfamilie kam, kursierte die Frage meiner hundeerfahrenen Ex-Frau immer wieder um einen Kernaspekt: „Bist du dir sicher, dass du einen Jagdhund willst.“ Ja, den wollte ich. Nein: Diese eine und keine andere Hündin wollte ich. Es gibt solche Momente spontaner Sympathieausströmung, love at first feel oder so, und Patty, mit ihrem weißen Fell und den leberfarbenen Kuhflecken darauf, hat dieses von außen betrachtet doch sehr einseitige, subjektive Empfinden von uns damals nie bereuen müssen. Ihr Leben verlief in geordneten Bahnen, und sie bekam, nachdem sie bereits mehrmals in Deutschland vermittelt, aber immer wieder ins Tierheim zurückgegeben wurde, neben einer Reihe von strategisch über den Wohnraum verteilten Körbchen stets die notwendige Aufmerksamkeit, Futter, Zuneigung und naturgemäß hinreichend Auslauf. Und auch ich habe geworfen und geworfen und geworfen. Zumindest zu Anfang und gelegentlich wieder. Aber Patty war anders als die meisten Hunde, denen man auf den Spaziergängen begegnet, und das sind ja stets eine Menge. Wenn ich mit ihr an der Leine losmarschiert bin und wir unsere Freilaufstrecke erreichten, hatte ich bis zu dem Zeitpunkt trotz Tricks und Hundeschule längst wieder einen langen Arm. Denn die Gute hatte etwas von einer Katze und ließ sich im Freien niemals so wirklich Vorschriften machen. Mal hörte sie hervorragend auf die Kommandos, dann wieder, es war himmelschreiend – beziehungsweise ich schrie in den Himmel, gar nicht, und ich musste sie beispielsweise aus einem Wehr zupfen, weil sie wieder einmal dem Reiz der Enten nicht widerstand, aber den Rückweg nicht schwimmen wollte oder konnte; wer weiß das schon. Ganzkörpernässe für alle inbegriffen.
Die Versuche, das Tier daran zu gewöhnen, Stöckchen oder Bällchen zu holen, endeten wie stets: mal so mal so. Heißt: An praxistaugliche Anwendung während der Hunderunden war niemals ernsthaft zu denken. Mal brachte sie ein Stöckchen. Meistens jedoch rannte die braun-weiß gefleckte Hübschheit hinterher, schnüffelte kurz am Objekt und streunte ihrer Nase nach, um dann irgendwann zurückzukommen. Man konnte einen ganzen Wald werfen, der sich dann im Abwegigen anhäufte. Es ist faszinierend, aber in der Präsenz zweier voneinander verschiedener Erkenntnissubjekte, Hund, Mensch, in einer Handlungssituation, dem Stöckchenwerfen, mutiert das abwesende Erkenntnisobjekt, das geworfene Stöckchen, das Stöckchen an sich, zum Medium der Erkenntnis. Damit aktualisiert sich nebenbei Platons „Höhlengefängnisgleichnis“. Wenn man also weiß, dass die einzige Passion seines geliebten Tiers das Hetzen von Feder- und Niederwild, von Fasan oder Hase ist, lebt man zwar stets in der Hoffnung, das Tier werde mit der Zeit und zunehmendem Alter ruhiger, was auch zutraf, doch schaut man über Jahre hinweg mit Wehmut auf die anderen im Park, deren praktischer Alltag schlichtweg entspannter – abgesehen vom arg belasteten Wurfarm – verlief, als mit einem planlos jagenden Hochleistungshund. Natürlich habe ich mich dann bisweilen – Vanitas – an die Sinnlosigkeit meines Tuns erinnert gefühlt, ganz aufgehoben oder aufgegangen in der Bedeutungssphäre des antiken Mythos. Aber es bedurfte endlich dieses Tiers um die Fülle des Sinns hinter dem Stöckchenwerfen zu begreifen, und ich beneidete bisweilen meine Hundemitmenschen, wenn ihre Menschenhunde so freundlich waren, das Kommunikationsangebot von Frauchen oder Herrchen bedingungs- und gnadenlos – „noch mal“ – zu akzeptieren. Um also die antikische Tragweite des Stöckchenwerfens zu verstehen, ist es wahrhaft vonnöten, mehr als bloß einen Zugang zum nächsten Stadtpark zu bekommen.
Nachtrag, 2. September 2016
Seit guten drei Wochen leben wir mit Luna. Sie verbringt bei uns ihren sechsten Lebensmonat und zählt noch als Welpe. Gerade zahnt sie und hält uns schön auf Trab. Anfangs, vor der Hundeschule, dachten wir, Apportieren ist prima. Jetzt wissen wir, dass mit Apportieren etwas anderes als Stöckchenwerfen und -holen gemeint ist. Es geht nur um den Vorgang des Holens. Heißt: Gegenstand ablegen, das Holen komplett ohne Werfen üben. Laut Trainerin gibt es außerdem hinreichende Gründe, das Werfen von Bällen und Stöckchen bleiben zu lassen. Jedesmal gibt’s nämlich einen Adrenalinkick, der erst nach bis zu sechs Tagen abgebaut ist. Bei hoher Adrenalinproduktion werden weitere Hormone ausgeschüttet, darunter eines, das Aggressionen auslöst. Um den Hund mit sich, uns und den Mitmenschen unterwegs zu befrieden, sei es ratsam, dieses Spiel gar nicht erst zu spielen. Wieder etwas gelernt.