Programmierte Kapitulation?

Was geschieht mit den reaktiven Kunstwerken der 1990er Jahre, die auf CD-ROMs erschienen sind und die von keinem heutigen Betriebssystem mehr zum Leben erweckt werden können? Im Rahmen des ZKM-Projekts ArtOnYourScreen lancierte ich das Reverse Engineering des Pattern Primer One von Paul Panhuysen. An dieser Stelle möchte ich den Text, der Probleme und Motivation schildert, auch für Besucher meiner Homepage publizieren. Es war mir eine Art Herzensangelegenheit. Dass es so wunderbar geklappt hat, das Werk nun zumindest für eine gewisse Zeit wieder zugänglich ist, verdankt das Projekt dem Medienkünstler und Programmierer Nikolaus Völzow.

Über die Notwendigkeit der Bewahrung des «Pattern Primer One» von Paul Panhuysen

«Its hard to say how a ghost from the past will fit in the future present.»
Josephine Bosma: Nettitudes. Let's talk Net Art. Rotterdam (NAI Publishers) 2011, S. 164

Es war in einer Buchhandlung am Berliner Savignyplatz in Charlottenburg, als ich 1995 auf das britische Magazin «Artifice» stieß.1 Eingeschweißt in festen Kunststoff, drängte sich die covergroße Zeitschrift mit CD-ROM als Beilage im Eingangsbereich ins Blickfeld. An den Kauf erinnere ich mich noch sehr gut. Ich fand es damals aufregend, eine Kunstzeitschrift mit einem Datenträger zu erhalten. Mit den zwei damals marktführenden, proprietären Betriebssystemen konnte man sich durch verschiedene Arbeiten unterschiedlicher Künstler bewegen und so unter anderem den «Pattern Primer One» des niederländischen Klangkunstpioniers Paul Panhuysen rezipieren. In dieser multimedialen Frühphase programmierte man reaktive Programme in der Hauptsache mit dem Autorensystem Director der Ende 2005 von Adobe aufgekauften Software-Firma Macromedia, so auch Panhuysens Arbeit.2

In den 1990er Jahren war es das Vorrecht von Verlagen und Computer-Zeitschriften, Datenträger zu distribuieren. Der Kunstbetrieb begann gerade erst, sich mit dem Medium vertraut zu machen. Ganz allgemein waren im kulturellen Sektor reaktive CD-ROMs damals eher die Ausnahme. Allerdings steigerte sich in dieser Zeit die Medienproduktion in Form bewegter Repräsentationsformen mit reaktiven Interfaces stetig. René van Binsbergen, der den «Pattern Primer» in Director umsetzte, fasst den Zeitgeist wie folgt zusammen: «Anfang der 199er Jahre traten ‹Mixed Media›-Produktionen in Erscheinung. Uns Kreativen boten sich neue Möglichkeiten, jedes Publikum in Reichweite zu adressieren. Ich erinnere mich noch gut an das Aha-Erlebnis von vielen Museumsmitarbeitern, Künstlern und Designern, als ich ihnen die Möglichkeiten vorführte, eigenen interaktiven Content zu produzieren. Alle lächelten, aber alle erkannten das Potenzial. Auch Paul Panhuysen war sofort ein Fan der Verspieltheit dieses neuen Mediums. Er sah voraus, wie sein theoretischer Ansatz, mit Magischen Quadraten zu arbeiten, hier lebendig werden konnte. Als ich ihm anhand kleiner Testdateien demonstrierte, dass man auch Sounds nutzen konnte, reagierte er glücklich wie ein Kind! Er war so enthusiastisch!»3

Mit Blick auf den kunsttheoretischen Hintergrund schien es daher eine logische Konsequenz zu sein, dass sich Paul Panhuysen mit größtem Einsatz der Umsetzung seiner Gedanken in ein Multimedium widmete. René van Binsbergen resümiert: «Seine Vorstellung von Magischen Quadraten bezieht sich darauf, wie man Zahlen sichtbar macht. Zur Zeit der Entstehung des ‹Pattern Primer› konnte ich nicht auf Pauls Erfahrungen zurückgreifen, war aber fasziniert von der Art und Weise, wie er arbeitete. Sein ungeheuer umfassendes Werk und seine Vorstellung davon, dass alles Unsichtbare sichtbar gem0acht werden könne, öffneten mir die Augen. Wie also übersetzt man eine Arbeit in ein Stück Multimedia, in dem Zahlen sichtbar, hörbar oder gar greifbar werden? Die Neuen Medien erlaubten es, mit Magischen Quadraten zu spielen. Das geht weit über ihre bloße Darstellung hinaus. Paul war fasziniert davon, all' diese neuen Wege zu erkunden. Er erlaubte es uns, mit Farben und Tönen zu experimentieren. Das war eine gemeinsame Anstrengung, an deren Ende etwas herausgekommen war, das ‹Pattern Primer› hieß.»4 Diese Situation, dieses intellektuell inspirierende Klima gilt es mit Blick auf damalige Möglichkeiten zu berücksichtigen.
Dass historisches, konservatorisches Bewusstsein und Denken im Kontext von Digitalität in den 1990ern sich erst noch entwickeln musste, liegt auf der Hand.

Aus heutiger Sicht mutet das publizistische Vorhaben, mitgetragen von der Londoner Bartlett School und dem University College London, wie ein Anachronismus an. Die CD stirbt ihren unaufhaltsamen Tod wie die Compact Cassette, und Software kommt längst aus dem Netz und bleibt in der Cloud. Man kann sich außerdem der Tatsache nicht verschließen, dass derartigen Unternehmungen damals offenbar kaum eine länger anhaltende Lebensdauer verhießen wurde. Die Vernachlässigung konservatorischer Notwendigkeiten der Gegenstandssicherung zeugt von einem Mangel an Bewusstsein für das kulturelle Erbe. Es dauerte noch gut fünf Jahre, bis in Medienkunstkreisen erstmals ein wahrnehmbares Augenmerk auf Probleme des Erhalts und Restaurierens digitaler Werke gerichtet wurde. Eins der ersten Projekte zur Bewahrung digitaler Künste im deutschsprachigen Raum war die Konferenz «404 Object Not Found – Was bleibt von der Medienkunst?», die der Hartware MedienKunstVerein, Dortmund, im Juni 2003 abhielt.5 Zahlreiche Unternehmungen auch – am ZKM im Rahmen von «digital art conservation» (2010-2012)6 – haben seither das Problem umkreist und das Bewusstsein geschärft. Doch «Pattern Primer», diese eine Inkunabel, also eine der Preziosen der reaktiven Kunst, ist seither scheint's nicht auf dem Radar der Restauratoren aufgetaucht.

Heute lässt sich die Arbeit nur mehr unter zwei Bedingungen erleben: auf einem antiken PC oder in der Emulation. Das ist das Drama, das der Trigger für das Bemühen war, diese wundervolle Arbeit von Paul Panhuysen und dem Programmierer René van Binsbergen zum Gegenstand der Untersuchung und des Re-Engineerings im Rahmen des Projekts ArtOnYourScreen (AOYS) zu machen.7 Wem also heutzutage kein Computer mit einem antiquierten Betriebssystem zur Verfügung steht, wer ansonsten begrenzte Fähigkeiten im Umgang mit so genannten Emulatoren besitzt, dem bleibt die Arbeit für immer verborgen. Benötigt wird gemäß «Artifice» (S. 6) ein Computer mit einer PC-CPU 486 DX33, acht MByte Arbeitsspeicher, MS-DOS 5.0 bzw. Windows 3.1, Quicktime 2 für Windows und ein passender Monitor, den eine Grafikkarte mit mindestens 256 Farben (SVGA-Auflösung, also mindestens 800 x 600 Bildpunkte) oder Apple Macintosh mit 8 MByte RAM und Quicktime 2, System 7.0 und ebensolchen Farbmöglichkeiten wie der PC. Mit einem Emulator wie dem Basilisk II, der unter Linux oder anderen Betriebssystemen dazu in der Lage ist, einem antiken Betriebssystem durch eine virtuelle Maschine zur Lauffähigkeit zu verhelfen, lässt sich die Hardware-Hürde umschiffen.8 Leider ist der Betrieb oftmals mit großer Mühsal verbunden. Computernutzer mit durchschnittlichen Kenntnissen werden mit Einstiegshürden konfrontiert. Für Ausstellungszwecke eignen sich derartig komplexe Umgebungen gleichfalls nur bedingt, da sie keine hinreichende Stabilität gewährleisten. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Emulatoren nicht mehr weiter entwickelt werden (die letzte offizielle Version von Basilisk II beispielsweise stammt aus dem Jahr 2006), weil die Community sicher irgendwann das Interesse am Überleben historischer Systeme verliert. Damit wäre der «Pattern Primer» nicht nur Geschichte, sondern schlichtweg verloren. Zumal die ursprünglichen Dateien schon lange ihr künstlich oktroyiertes Haltbarkeitsdatum überschritten haben. Es ist nämlich das strategische Versäumnis der auf Vergessen und lediglich auf Profit hin angelegten, historisch kurzatmigen Branche der Software-Industrie: Sich um die Zukunft aus der Sicht des Users Gedanken zu machen, ist nicht programmiert. Warum sollte Silicon Valley auch Interesse daran zeigen, dafür zu sorgen, dass solche Kulturerzeugnisse ihr Recht aufs Überleben bekommen? Das wäre ökonomisch kontraproduktiv. Stattdessen ist es nicht einmal mehr möglich, mit dem Director-Programm Version 4 die Quellen der Version 2 vollständig und korrekt zu erschließen!

Kürzlich schrieb Johannes Goebel in der CRUMB-Mailingliste «New Media Curating» völlig zurecht, dass digitale Künste zeitbasiert wie Performances seien. Damit trügen sie ein Verfallsdatum und passten zudem nicht in das Schema objektzentrierten Denkens typischer Museen. Außerdem seien Dokumentationen wichtiger, als dass man das Werk selbst lauffähig hält. In diesem Zusammenhang konstatiert er für die meisten Institute einen Mangel an Zeit und Expertise, Werke hinreichend zu erhalten und zu dokumentieren. «We all have digital devices but we do not have the power to even port data and programs through more than 3-5 generations of devices or through 2-3 generations of new operating systems.»9 Sinngemäß meint er, es sei zwar in Ordnung, wenn man sich um den Erhalt bemühe, aber sagt dann fatalistisch: «How great (seriously) now we have digital art, which has an inherent expiration date. Maybe that is what is meant by ‹artificial life›.»

Ein ergänzender Widerspruch: Natürlich betont Goebel, der von 1990 bis 2001 Leiter des Instituts für Musik und Akustik am ZKM war, dessen Rolle und Möglichkeiten mit Blick und Engagement auf die Konservierung von digitalen Kunstwerken. Und gerade deswegen und weil das Re-Engineering des «Pattern Primer» im Rahmen eines ZKM-Projekts stattfand, sei Folgendes angemerkt. Ganz privat, bis zum Einstieg ins AOYS-Projekt, klickte ich mich immer wieder einmal in unregelmäßigen Abständen durch die Arbeit. Als ich «Artifice» in Berlin kaufte, lief auf meinem Mac die Betriebssystem-Version 7.5. Bis zu meiner Abkehr von Apple-Produkten nach Auslaufen des Supports von Mac OS X 10.6.8 «Snow Leopard» (bis 2011) war es mir möglich, den «Pattern Primer» zu betrachten. Das heißt, dass ich – mit einigen Tricks – gute zehn Betriebssystem-generationen überbrücken konnte. Parallel dazu betreibt seit etlichen Jahren der Emulator Basilisk II auf meinem Linux-Rechner unter anderem Mac OS 7.6.1. Damit kann die CD-ROM von «Artifice» weiter genutzt werden. Also funktioniert der originale Datenbestand insgesamt bereits 19 Jahre. Natürlich ist es etwas vollkommen Anderes, ob die Software auf einem 800 x 600 Pixel kleinen Kathodenstrahlmonitor oder auf einem LED-Display mit einer Auflösung von 2560 x 1080 Bildpunkte angeschaut wird. Doch ist, im Sinne von Johannes Goebel, dem Performativen Rechnung zu tragen. Wir haben keine Tonaufzeichnungen etwa von dem klanglichen Kontext der Aufführung einer klassischen Sinfonie an einem der Höfe Europas, dennoch es gibt kontinuierliche Aufführungs- und Interpretationshistorien. Allerdings sollte dies nur metaphorisch auf technische Geräte übertragen werden. Wäre nicht das ZKM mit dem Auftrag, das Projekt AOYS zu kuratieren, an mich herangetreten, wäre es wohl aus meiner privaten Sicht dabei geblieben, den «Pattern Primer» immer wieder einmal per Emulator zu erleben. Das allein belegt, wie viel Arbeit noch da ist, um die Bewahrung digitaler Inkunabeln aus dem Bereich des privaten Interesses in ein öffentlich-strukturiertes zu überführen.

AOYS hat einen anderen Weg, als den der Emulation, gewählt: das Reverse Engineering.10 Dieses Vorgehen bezeichnet den programmierenden Nachvollzug sämtlicher Eigenschaften, Funktionen und Routinen eines Programms. Zudem wurde es in eine andere Programmiersprache portiert (HTML5, JavaScript). Das Werk, so der Ausgangspunkt, sollte so getreu wie möglich den Stand von 1995 abbilden und in Nutzung wie Wahrnehmung keine Unterschiede zum «Original» aufweisen. Als Reminiszenz an die technische Entwicklung sollte der «Pattern Primer» jedoch eine Erweiterung erfahren: Netztauglichkeit. Die Gründe liegen auf der Hand. Mit der sich immer stärker durchsetzenden fünften Version von HTML wird das Programmieren grafischer Web-Oberflächen erheblich vereinfacht und multimedialisiert.11 Beispielsweise werden Rechenvorgänge nach dem neuen Standard viel stärker in den Browser des Clients verlegt, womit viele Elemente nicht mehr eigens aus dem Internet nachgeladen werden müssen. Außerdem garantieren die Sprache und ihre Erweiterungen Offenheit. Das meint auch Transparenz mit Blick auf die Algorithmen, um den Code für zukünftige Änderungen innerhalb der Fortentwicklung transparent und nachvollziehbar zu halten. Nur unter solchen Bedingungen kann die Software ein Höchstmaß an Portabilität und Kompatibilität bekommen. Denn nur quelloffene Software ist erst einmal zukunftssicher, da der Code in anderen Sprachen abbildbar und anpassbar bleibt. Denn was in Tresoren schlummert, kann nicht analysiert werden.

Doch im Fall des «Pattern Primer», so ergaben die Nachforschungen, stellten sich selbst bei einer relativ einfach anmutenden Arbeit der Umsetzung Hürden in den Weg, die ihr massives Fundament in der aus kunstwissenschaftlicher Sicht verheerenden Politik des Missbrauchs des Herrschafts-wissens von Softwareunternehmen besitzen. Zu Beginn der Recherche lag nicht viel mehr als der originale und funktionstüchtige Datenträger vor. Mit dem oben erwähnten Emulator kann und konnte die Arbeit erlebt werden, selbst wenn heutige Monitore den damaligen Eindruck nicht mehr erzeugten. Es ist schließlich ein, wenn auch relativer Unterschied, ob das Ausgabegerät ein Kathodenstrahl- oder ein LED-Bildschirm ist. Nach ersten Sondierungsgesprächen mit dem Karlsruher Medienkünstler und Programmierer Nikolaus Völzow stellte sich heraus, dass die mit der Zeitschrift ausgelieferte Software nur über Umwege Rückschlüsse auf alle Parameter zulässt. Daher wurde zuerst der Versuch unternommen, anhand einer präzisen, detailreichen Beschreibung unter Zuhilfenahme und Austausch von Screencasts mittels eines Dossiers quasi archäologisch den «Pattern Primer» zu rekonstruieren. Parallel dazu recherchierte ich den Programmierer der Arbeit, um in Erfahrung zu bringen, ob überhaupt zugehörige Produktionsdateien neben dem «Projektor», dem Werk auf der CD-ROM, gibt. Das beinhaltete auch die Nachfrage nach Grafiken und Sounds.

Die Ursprungsdateien im Format des Medientools Macromedia Director hatten weder die Hochschulen, noch deren Bibliotheken oder Paul Panhuysen in ihren Archiven. Auch konnte der damalige Redaktionsleiter der Zeitschrift, Duncan McCorquodale, nicht weiterhelfen. Nach einer Suche über mehrere Stationen hinweg machte ich den Designer René van Binsbergen, heute Projektleiter Digitale Kommunikation an der Design Academy Eindhoven, über die frühere Agentur Opera, die den Auftrag hatte, die Software zu programmieren, ausfindig. Dankenswerter Weise nahm er die Mühen der Nachforschung auf sich und fand tatsächlich die Quelldateien. Doch hier ergab sich eine weitere Barriere. Zwar existieren die verschiedenen Files, die zum Teil noch mit heutigen Versionen des Autorentools bearbeitet werden können, doch die eingebetteten Sounds und Visuals nicht, und die ließen sich perfiderweise nicht ohne weiteres aus dem Material extrahieren. Hier musste der Umweg über Screenshots/Bitmaps beschritten werden. An das originale Material heute heranzukommen ist gleichermaßen schwierig, da die Sounds von Anbietern so genannter Stock-Datenbanken stammten. Daher habe ich sämtliche Sounds als Datenstrom direkt an der Hardware der Soundkarte abgegriffen. Das führte zu Detailfragen, etwa ob es sich Mono- oder Stereoklänge handelt. Letztere benötigen mehr Speicher. Das ist relevant, denn im Vollzug des Ladens der Site müssen zunächst sämtliche Sounds aus den Netz in den Arbeitsspeicher kopiert werden, damit unnötige Unterbrechungen durch Nachladen vermieden werden. In der Umsetzung dauert es trotzdem eine Weile, bis alle 26 Dateien einsatzbereit sind. Um die Geduld des Nutzers nicht über Gebühr zu strapazieren, fügte Nikolaus Völzow einen wenn auch nicht originalen, so dennoch dezenten Progressionsbalken am unteren Rand ein. Diesen ließen wir von Paul Panhuysen autorisieren. Für mobile Geräte galten andere Gesetze, etwa die bewusste Einwilligung, die Sounds zu laden. Auch dieser Tatsache wurde Rechnung getragen.

Zudem wurden sämtliche Skripten in der Director-eigenen Sprache Lingo12 aus dem Programm (Version 4) in reinen Text extrahiert, damit Nikolaus Völzow die Strukturen eruieren konnte. Überdies galt es, Fragen nach den verwendeten Zeichensätzen zu beantworten. Im «work»-Part gibt es übrigens eine Inkonsistenz im Verhalten des Programms. Klickt man auf die Spirale und startet «Pattern Play 3», lassen sich zunächst die 25 Quadrate wie gewohnt anklicken und damit einfärben. Ein weiterer Klick auf die Zahlen 1 bis 8 auf der vertikalen Zahlenreihe links unten führt zu der Neuorganisation der Fläche. Ein zweiter Klick leitet jedoch einen Rücksprung zu «Pattern Play 1» ein. Das ist bei sämtlichen Kombinationen so. Die Frage musste beantwortet werden, ob es sich um einen Bug handelt. Wenn es einer ist, bleibt er dann aus konservatorischen Gründen im Programm oder sollte die ursprüngliche Künstlerintention umgesetzt werden?

Van Binsbergen nennt übrigens einen weiteren Grund, der dazu berechtigt, das Werk zu erhalten: «Heute, beinahe 20 Jahre später, wird dieses kleine Spiel re-programmiert, damit es nicht vergessen wird. Betriebssysteme entwickeln sich und hinterlassen eine gigantische Datenhalde, deren Inhalt vergessen werden wird. Dabei ist es so aufregend zu sehen, dass die Energie, die wir damals in das kleine Game steckten, nicht verloren ist. Ich spüre, dass sie immer noch da ist. Das ist etwas ganz Spezielles, das ich nicht entdecken kann, wenn ich meine Kinder vor ihren heutigen Devices beobachte.» Selbst wenn man also Paul Panhuysens Arbeit nicht kennt, sei der «Pattern Primer» eine «bemerkenswerte Arbeit, ein Werk, das hier ist, um zu bleiben». Die Reanimation des «Pattern Primer» macht zudem über AOYS hinaus Sinn. Denn kunsthistorisch markiert das Werk eine weitere Wegmarke in der knapp 100-jährigen Geschichte der geometrisch-ungegenständlichen Kunst und fügt dieser eine weitere Facette hinzu: das Mitmachen im Digitalen. Bereits im analogen Zeitalter haben sich Gerhard von Graevenitz13 oder Victor Vasarely14 mit veränderbaren Objekten beschäftigt. Was also wäre eine Kunstgeschichte ohne den «Pattern Primer One»? Der zudem ein bislang vielleicht unbemerkt gebliebenes Paradebeispiel reaktiver, digitaler Kunst aus der Mitte der 1990er Jahre ist, das allerdings in einem Kontext steht, der, folgten wir Johannes Goebels Vorschlag, verschüttet würde. Aus der Sicht des Historikers ist dies schlicht unakzeptabel.

Im Kontext von ArtOnYourScreen war ein strukturiertes, restauratorischen Standards genügendes Vorgehen nicht möglich. Allein eine lückenlose Dokumentation hätte einen eigenen Mitarbeiterstab benötigt. Doch der Anfang ist gemacht, und es ist nicht auszuschließen bzw. zu hoffen, dass in einem passgenauen Projekt diese Lücke geschlossen werden wird. Nun ist es dennoch gelungen, diese wunderbare Arbeit zumindest zu öffnen, so dass ihr auch für kommende Generationen von Programmiersprachen vielleicht eine Zukunft fern von Emulatoren bestimmt ist. Und zwar auf eine, Nikolaus Völzow ist es zu verdanken, enorm werknahe Weise. Es ist daher wünschenswert, dass der so entstandene Code weiterhin Pflege bekommt und dass dieses Kapitel der Kunst auch als Beleg dafür dienen kann, dass die Verbindungen zwischen digitaler und analoger Kunst weitaus enger sind, als es der erste Hype um Multimedialität in den 1990er Jahren vermuten ließe. Es kann daher, entgegen der Auffassung von Johannes Goebel, nicht sein, dass wir in jedem Fall kategorisch vor der vielleicht wahrscheinlichen Vergänglichkeit digitaler Künste kapitulieren.

1 Artifice. Architecture, Film, Theory, Photography, History, Art and Things, Issue 2. London 1995
(ISSN 1357-0498).

2 S. http://de.wikipedia.org/wiki/Adobe_Director (Visit 04.09.2014) sowie (mit Vorsicht aufgrund der Nähe des Autors zur Software-Branche zu lesen) zu einer weiter gefassten kulturtechnischen Einschätzung Lev Manovich: Software Takes Command. New York, London, New Dehli, Sydney (Bloomsbury) 2013,
S. 44 und vor allem S. 159-195.

3 René van Binsbergen in einer E-Mail an den Autor vom 12. August 2014. Alle weiteren Zitate stammen aus dieser E-Mail.

4 Ebda.

5 S. http://www.hmkv.de/programm/programmpunkte/2002/Veranstaltungen/2002_404_Forschungsprojekt.php (Visit 04.09.2014).

6 S. http://www.digitalartconservation.org (Visit 04.09.2014).

7 S. http://aoys.zkm.de/pattern-primer-one/ (Visit 04.09.2014).

8 S. http://basilisk.cebix.net sowie http://de.wikipedia.org/wiki/Basilisk_II (Visits 04.09.2014).

9 S. https://www.jiscmail.ac.uk/cgi-bin/webadmin?A2=ind1406&L=NEW-MEDIA-CURATING&F=&S=&P=54877 (Visit 04.09.2014). Alle weiteren Zitate stammen aus dem hier angeführten Listenbeitrag vom 28. Juni 2014.

10 S. Peter Rechenberg, Gustav Pomberger (Hrsg.): Informatik-Handbuch. München (Hanser) 42006, S. 821.

11 Für die neuesten Erweiterungen und Spezifizierungen von HTML5 s. http://www.w3.org/html/wg/drafts/
html/master/ (Visit 04.09.2014).

12 S. http://de.wikipedia.org/wiki/Lingo_(Programmiersprache) (Visit 04.09.2014).

13 S. Gerhard von Graevenitz: weisse strukturen, lichtobjekte, kinetische objekte, spielobjekte (1959–1983). Berlin (Kunsthandel Wolfgang Werner Bremen/Berlin) 2014 sowie Kornelia von Berswordt-Wallrabe: Gerhard Graevenitz. Eine Kunst jenseits des Bildes. Ostfildern (Cantz Verlag) 1994 (zgl. Ausst. Kat. Staatliches Museum Schwerin 1994), S. 103 f.

14 Victor Vasarely beabsichtigte zwar nicht den Bau einer computergesteuerten «Kunstmaschine», dennoch zog er deren Potenziale mit Blick auf Kombinatorik und Permutation in Erwägung und reflektierte die Möglichkeiten einer solchen. S. Richard W. Gassen: Vasarely. Erfinder der Op-Art. Ostfildern-Ruit (Verlag Gerhard Hatje) 1998 (zgl. Ausst. Kat. Quadrat – Bottrop Josef Albers Museum, 17.5.-23.8.1998), S. 184 f.