Skizzen über Flure, Korridore und Passagen in der Malerei von Anja Ganster
Zonen des Übergangs. Zwielichtige Bereiche, nicht mehr außen, noch nicht innen. Schwellensphären. Keinesfalls Plätze im Wortsinn. Sehwege durch helle Tunnels. Gänge, die meist durcheilt werden. Oft mit gleißendem Licht am Ende. Dort strandet der Blick. Einen Teil ihrer malerischen Arbeit widmet Anja Ganster einem Sujet, das an sich eigentlich keines ist. Geht man davon aus, dass Orte sich durch eine Art Zielcharakter auszeichnen, sind es in den jüngeren Gemälden der Künstlerin bisweilen Nicht-Orte, Transitgefilde, Flure beispielsweise, die aus ihrer flüchtigen Nichtswürdigkeit enthoben und auf den Leinwänden zu etwas Betrachtenswerten nobilitiert sind.
Ein «Korridor» – Ganster arbeitet seit 2002 an der gleichnamigen Serie – zeichnet sich dadurch aus, dass er keine Aufenthaltsqualität bietet und bieten will und im Sinne einer Dialektik vom Innen und Außen zwar zum Interieur eines Hauses gehört, jedoch einen Besucher, der über die Schwelle getreten ist, immer noch nicht «Da-Sein» lässt. Warum aber sollte man sich den eher schmucklosen «Schiffskorridor» von 2008 anschauen? Ist der doch lediglich Infrastruktur. In durchschnittlichen Gebäuden gelingt deren würdige Inszenierung nur selten. Sie erfüllt innerhalb eines Bauwerks vielleicht überall denselben Zweck. Wie aber nimmt man sie wahr? Es lohnt die Mühe, sich beim Durchschreiten einer Hotellobby oder von Fluren in einem Amtsgebäude zu beobachten. Was denkt man dort? Ist man überhaupt an einem Ort oder verweilt man in Gedanken nicht schon längst an dem Ziel, dem Hotelzimmer, dem Sachbearbeiter?
Die Frage, die sich beim Anblick der Gemälde von Anja Ganster stellt, zielt auf die Klärung des Status ihrer Bilder und des Abgebildeten zunächst hinsichtlich ihrer Motivik. En passant: Eine Passage, hier streunt man. Es ist dies das Biotop des Flaneurs, in dessen ziellosem Spazieren die Bewegung vor den Schaufenstern und Augen der anderen ein Zweck an sich ist. Konsumkritik ist aber nicht die Sache der Malerin. Markennamen oder Konsumenten werden nicht vorgeführt. Vielmehr bieten sich Einblicke in Schaufenster, die eigentliche keine sind («Pharmacy 1, 2», beide 2008), oder auf Auslagen von Supermärkten oder Tante-Emma-Läden, vor denen der Blick abprallt. Hier zeigen sich Aufsichten mit artifizieller Farbigkeit. Leon Battista Albertis Definition des Bildes als finestra aperta funktioniert nicht mehr. Die ineinander geschachtelten «Rahmen» sind Abschottung zugleich: «Aquarium Chinatown NY» (2008) blendet eine Scheibe vor und dennoch erkennt man durch die Schleierschwänze das dahinterliegende Interieur. Flughäfen und verspiegelte Eingangsbereiche. Passanten, die auftauchen, erscheinen als Enteilende, die sich undeutlich in dem verglasten Portal vielfach brechen («Barcelona Airport 1», 2008). Ein Treppenabgang in der Metro-Station lenkt den Blick auf eine geflieste Mauer. Das Close-Up auf die Hände eines Passagiers in der Untergrundbahn. Auch hier eine Schranke. Dann die Sicht beinahe aus der Vogelperspektive auf eine Baustelle. Ist es die Identifikation, die Empathie, die im Beschauer evoziert wird?
Die meisten Arbeiten sind perspektivisch konstruiert. Es gibt demgemäß ganz traditionell Fluchtpunkte. Doch irritieren Momente, die sich der Arbeitsweise verdanken. Erst einmal das fotografische Bild, spezieller das Digitalfoto. Die Vorlagen entstehen, wenn die Künstlerin auf Reisen ist. Allmählich entdeckt sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit weckt und bindet – eine unbestimmte atmosphärische Stimmung. Die digitale Fotografie erlaubt es, sich an das «Unerklärbare», wie Ganster es nennt, heranzutasten, es ohne Aufwand aus verschiedenen Einstellungen kontrolliert abzulichten. Die «Vorbilder» belässt sie im Digitalen, malt nach dem Laptop-Bildschirm. Übrigens auch ein Reisegerät, notwendig, wenn man wie die Künstlerin häufig Ort und Atelier wechselt. Das Malen nach einem gepixelten Bild vergleicht Ganster mit der Pleinairmalerei, mit der sie begonnen hat. Anders als ein Papierabzug, ist das Bildschirmbild nicht statisch. Die Darstellung verändert sich stetig je nach Ausschnittsvergrößerung und Standort vor dem Gerät. Ein Indiz hierfür ist die Farbigkeit. Im «Fishshop» blickt der Betrachter in die Auslagen eines kleinen Geschäfts. Leicht rechts versetzt von der Mittelsenkrechten und annähernd auf dem Bildmittelpunkt steht ein Verkäufer mit einem schemenhaften Blick. Der Verkaufsbereich vorn scheint vom Schlachtraum durch eine gläserne Wand hinten abgetrennt zu sein. Betrachtet man hier die Beleuchtung genauer, so erkennt man an der linken, dass diese aus weißen Kacheln bestehen muss, ihre Farbigkeit jedoch ins Violette tendiert. Das mag eine Folge der Neon-Beleuchtung sein, in Kontrast aber zu dem im Vorraum dominierenden Grün verweist es auf typische Farbartefakte, die Digitalkameras (noch) nicht getreu wiedergeben. Mit dem Ergebnis eines wenig naturalistischen Bildes. Hinzu tritt die teils artifizielle Perspektive, in der Fluchtlinien gebeugt erscheinen, wenn sie auch plausibel erscheinen.
In der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts fächerten sich die malerischen Handlungsmodelle und Darstellungsmodi des gemalten Gegenstands zusehends auf. Das Interieur heute ist das Ergebnis eines Paradigmenwechsels. Aufgrund der veränderten Alltagserfahrungen des Menschen im ausgehenden 20. und 21. Jahrhunderts mit einer exponentiell gesteigerten Mobilität wandelte sich der Kunstbegriff radikal und inkorporierte Alltäglichkeit als kunstwürdig. Zudem expandierten auch die Motivspektren der Genres und Sujets. Anja Gansters Malerei markiert eine Stelle in der Geschichte dieses mindestens einhundertjährigen Prozesses. In ihren Bildern spiegelt sich unsere gesellschaftliche Gegenwart sowohl in der Bildentstehung und -konzeption als auch in den Motiven und der Art und Weise der Farbbehandlung. Ihre Korridore sind Stillleben, die den Betrachter mit einer melancholischen Sehnsucht nach Dauer impfen. Für die zeitgenössischen Nomaden, einsam und immer in Bewegung, für Augenblicke Halt findend nur an den Handläufen von Rolltreppen und Treppenhäusern, wird es bei dem Blick zurück nach vorn bleiben. Denn wenn man viel reist, muss man sich zwangsweise damit anfreunden, in den Bereichen des Dazwischen ein Stückchen beheimatet zu sein. Räumlich spiegeln die architektonischen Verbindungsstrecken genau diejenigen Emotionen, welche man unterwegs als Erfahrung des Unterwegsseins macht. Als zeitgenössischer Nomade erfährt man seine Wirklichkeit eben anders, ohne die «Festigkeit» eines Zuhauses. An dieser Erfahrung lässt uns Anja Ganster durch ihre Malerei zwar teilhaben, aber nur indirekt. Sowohl die Perspektive als auch die Farbigkeit und Motivik halten den Betrachter auf Distanz. Der Eindruck, man gehöre eben nicht dazu, weicht nicht, selbst wenn man bestimmte Situationen durchaus mit eigenen Erfahrungen zu teilen vermag.
Veröffentlicht in: Anja Ganster. Entlang der Krümmung, Malerei 2000-2009. Bielefeld (Kerber) 2009
Bild: Anja Ganster: Schiffskorridor, 80 x 120 cm, 2008
Foto: © Anja Ganster