Wenn man Netzkunst als Kunst definiert, in der das Internet eine tragende Rolle spielt, ohne die ein Kunstwerk dieser Kategorie nicht sinnvoll ist, wird man mit einem Problem konfrontiert: Diese Definition nahm die net.art in Anspruch, welche aber durch ihre Protagonisten als tot erklärt worden ist. Daneben hat die zeitgenössische Kunst weit reichend Berührungsängste zu Neuen Medien abgebaut. Dies führt zu einem historisch nachvollziehbaren und terminologisch begründbaren Verschwinden von Netzkunst als Kategorie, was für die Fragestellung nach einer Perspektive auf Netzkunst heute in eine ausweglose Situation führt. Anhand von Einzelbeispielen versuche ich das Produktive dieses Dilemmas zu demonstrieren. Denn einerseits entstehen Arbeiten, die sich des Internets bedienen, andererseits baut sich eine Spannung aus der Möglichkeit auf, diese parallel geführten Diskurse der Gegenwartskunst miteinander zu konfrontieren. Hilfreich ist eine Neueinschätzung des historischen Verhältnisses zwischen net.art und der Kunst. Dass es sich hierbei um mehr als bloß rhetorisch ornamentierte Kasuistik handelt, sondern zum Kern des Problems einer Einschätzung und Relevanz von Netzkunst zum gegenwärtigen Zeitpunkt führt, soll im Vortrag deutlich werden.
Vortragstext für Hartware Medien Kunst Verein, Dortmund, und das Medienwerk Ruhr im Rahmen des Symposiums „Perspektiven der Netzkunst“, 17. Juli 2005, Phönixhalle, Dortmund.
Über die methodischen Schwierigkeiten, die Tragweite der Netzkunst zu erfassen sowie einige Gedanken über das Verhältnis zwischen Definition, Werk und Beschreibung in derjenigen zeitgenössischen Kunst, welche sich der Techniken Internets bedient.
Probleme bei der Definition von Netzkunst
Entgegen der Erwartung, dass ich an dieser Stelle eine Reihe von Kunstwerken aufzähle, anhand derer ich als Kunstgeschichtler mit dem Fachgebiet der Netzkunst durch eine Analyse die Option auf eine Zukunft derselben verorte, möchte ich im Folgenden der These nachgehen, dass die Zeit der Alleinstellungsmerkmale der netzbasierten Kunst vorbei ist. Und genau aus diesem Grund werde ich ein – meiner Meinung nach – produktives Dilemma des Diskurses über Netzkunst beschreiben.
Ein Schwanengesang hebt nun an. Dieser ist allerdings ganz und gar kein Trauermarsch, denn davon hatten wir bereits einige, und die haben auch nicht viel dazu beigetragen, Netzkunst besser zu verstehen.1 Wenn wir uns aber nicht wünschen, dass diese Technik in ihren Bedeutungen und Wirkungen für die Kunst unerkannt bleibt, dann kann man sich nicht mehr mit den textuellen Ornamenten unkritischer Druckwerke zufrieden geben, welche in nicht mehr nachprüfbarer, argumentationsarmer Weise ein Genre der prosaischer Kunstkritik geschaffen haben, das mit Kritik nicht viel zu tun hat. Heute ist es leider so, dass ein großer Teil aller Netzkunstwerke, begutachtet aus der Perspektive einer an fern aller Moden orientierten, Qualität bewussten Kunstgeschichte und -kritik, die Attribuierung als Bildende Kunst nicht verdienen. Somit muss man sich allerdings fragen, woran es liegen könnte, dass es zu dieser katastrophalen Lage gekommen ist. Die Ursachensuche allein scheint mir aber nicht primär das effizienteste Mittel der Auseinandersetzung mit dem Problem zu sein. Vielmehr bin ich der festen Überzeugung, dass sich jener Zustand durch eine terminologische Untersuchung des Diskurses wie durch die praktische Auslegung des Gegenstands hin zu einer Transparenz aufbrechen lässt, welche bislang in jahrelanger kuratorischer und kunsttheoretischer Praxis unter einer Vielzahl von Behauptungen und dem radikalen Entzug methodisch-kritischen, rationalen Arbeitens an den Phänomenen verschüttet wurde. Was meinen nun diese markigen Sätze zu Beginn einer Einschätzung der Lage der Netzkunst?
Netzkunst, verstanden als Untermenge der Medienkunst, ist als solche kein Faktor im Kunstbetrieb, weder merkantil, diskursiv, geschweige denn museal. Die Szene und ihre Multiplikatoren beschränken sich nachhaltig selbst durch eine Idiosynkrasie hinsichtlich der Anderen, welche mit der kategorialen Zuschreibungsvokabel Kunst ein stetig wachsendes, stetig sich verjüngendes Publikum PR-strategisch nachhaltig zu stimulieren verstehen.2 In der gutbürgerlichen Welt des ubiquitären Pop-Wahns hat es die zeitgenössische Kunst hervorragend verstanden, einen Mehrwert produzierenden Faktor zu erzeugen, der über den Picasso-Tassenverkauf in miefigen Museumsshops weit hinausgeht. Nur die Netzkunst – so das Fazit aus den Beobachtungen der vergangenen rund zehn Jahre – nährt sich weiter redlich vom Entzug.
Das findet nun ex negativo eine gewisse Bestätigung allein schon in der Tatsache, dass das Medienkunstnetz NRW sich nicht erst hier und heute die Frage stellt und von mir beantworten lassen will, was denn Netzkunst ist, was der Stand der Dinge hinsichtlich der Entwicklung ist und welche Schlussfolgerungen für eine KünstlerInnen- oder Projektförderung daraus zu ziehen wären. Da dies ein wenig zu rhetorisch ist, um als ehrliches Symptom gelten zu können, möchte ich im Folgenden die Gelegenheit nutzen, meine These zunächst anhand eines kurzen Rückblicks in die jüngere Vergangenheit der Netzkunst verständlich machen und eventuell einen Ausblick auf das Produktive eines Dilemmas anbieten, welches mir immer deutlicher wird. Dabei verfolge ich wenige ausgewählte Arbeiten, um nicht mit allzu großer Detailfülle ein Zuviel an Komplexität zu erzeugen.
Vergangenes
Werfe ich also zunächst einen Blick zurück. Es ist mittlerweile ein Gemeinplatz, dass es die Protagonisten der Netzkunst – wie bereits angedeutet – auf ganz unterschiedliche Art und Weise immer wieder geschafft haben, sich aus dem üblichen Betrieb der zeitgenössischen Kunst weitgehend zu entziehen. Eine von den Protagonisten am häufigsten angewandte Strategie ist es gewesen, einfach zu behaupten, Netzkunst eigne sich weder zur Ausstellung noch zum Verkauf, sei daher virulent und demzufolge sich selbst immer wieder aufhebend. In dieser Phase ist es die so genannte net.art, von welcher man glaubte, sie wäre hierzu in der Lage, das hehre Ziel des Rückzugs aus der Welt der bürgerlichen Kunstbegriffe zu leisten. Denn es sei dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass sie zu einem hohen Grade selbstreferenziell sei, was die Sache der Auslegung für technisch weniger Versierte zu einer kaum lösbaren Aufgabe werden ließe. Man fragt sich nur immer noch, ob dahinter nicht eine simple Überlebensstrategie stand und steht. Behaupte ich mich in einem Neuen Markt, gibt es eventuell auch neue Rezipienten, die eventuell mit den üblichen Bewertungs- und Lobpreisungsmechanismen nichts anfangen können und sich den gewandelten Bedingungen gemäß mit dieser Kunst auseinander setzen. Aber lässt sich denn für die bildende Kunst ein Rezipient erfinden, der außerhalb der überlieferten, kulturell geprägten und mittlerweile allerorts anerkannten Mechanismen eine andere Kunsterfahrung machen kann? Oder ist es nicht vielmehr die stetige Auseinandersetzung eben mit jenen historischen und gegenwärtigen Bedingungen des Systems Kunst?
So weit, so verwirrend. Welche Rolle spielt nun aber das Künstlerische in der so genannten net.art? Im Anbeginn war Netzkunst in der Regel diejenige Kunst, welche in nicht aufzulösender Verstrickung mit dem Internet Artefakte verschiedener Art und Weise realisierte, die meist als reine Bildschirmarbeiten mit den Erfahrungsgewohnheiten der Internetnutzer operierten. Daher kann als historischer Anfangspunkt eigentlich erst die Mitte der 1990er Jahre definiert werden, denn zuvor war das Internet noch weitab von der Möglichkeit eines künstlerischen, produktiven Fremdgebrauchs und lediglich einer Elite von Wissenschaftlern und Strategen vorbehalten. Was seitdem aber im künstlerischen Kontext im Internet entstand, das ist häufig das Ausloten technischer Möglichkeiten und im Anschluss das künstlerische Konterkarieren derselben. Eins der frühen, genuinen Netzkunstwerke ist zum Beispiel Refresh, eine Arbeit, die in der Regel Alexej Shulgin zugeschrieben wird. Es handelt sich hierbei einerseits um die Aufforderung der Teilnahme zur Bildung eines Rings von Netzseiten. Andererseits handelt es sich um die Verschaltung von Webseiten mittels eines sehr einfachen Mechanismus, um die Vernetzung als solche zu thematisieren. Namensgeber und technisches Hauptinstrument ist das refresh-Tag, ein Befehl in HTML, welcher es unter Angabe zweier Parameter (Zeit des Seitenwechsels in Sekunden, Zielseite) ermöglicht, automatisiert von einer Seite zu einer weiteren zu vermitteln, ohne dass der Befehl seitens des Internet-Nutzers erteilt worden ist.\footnote{Auch wenn es den Anschein hat, als sei im Computer alles nur Null und Eins, hat sich aber aufgrund der Schließung von Quellcode zwecks Schaffung, Erhalt und Ausbeutung proprietären Wissens, ein geradezu babylonisches Sprachenwirrwarr ergeben. Dies spiegelte sich auch im Browserkrieg, Ende der 1990er Jahre, als Netscape und Microsoft um die Marktdominanz stritten (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Browserkrieg). Jede der beiden Firmen versuchte damals mit eigenen Tags die Auszeichnungssprache HTML zu erweitern, um einen Wettbewerbsvorteil zu erwirken. Heute reguliert eine Organisation die Standards um kunden- und programmiererunfreundliche Vorstöße im Zaum zu halten. Der refresh-Tag stammt aus einer Zeit, in der der programmierte Wildwuchs noch an der Tagesordnung war. Glaubt man http://wp.netscape.com/assist/net_sites/pushpull.html – also der Firma Netscape – so wurde refresh mit dem Navigator 1.1, also im Jahre 1994 (s. http://en.wikipedia.org/wiki/Netscape_Navigator). Eine der führenden Referenzen zu HTML, das deutsche Selfhtml-Projekt von Stefan Münz, beschreibt dies wie folgt: „Diese Angabe ist zwar ziemlich eingebürgert und sehr beliebt, weshalb sie hier auch beschrieben wird. In der HTML-Spezifikation verteufelt das W3-Konsortium diese Angabe jedoch mit der Begründung, dass die Seite dann für einige Besucher überhaupt nicht mehr anzeigbar sei. Das mutet zwar etwas seltsam an, da es seit Urzeiten mit praktisch allen Browsern erfolgreich funktioniert.“, S. hierzu http://de.selfhtml.org/html/kopfdaten/meta.htm#weiterleitung. Damit kann der Eindruck einer passiv geleiteten Reise durch ganz unterschiedliche und unzusammenhängende Bereiche des Netzes erweckt werden. Voraussetzung ist dabei, dass der Nutzer das Surfen als räumliches Erleben rezipiert. Dies bedeutet eine Übersetzungsleistung, die bereits durch eine Reihe von technischen Innovationen und technologischen Weltbeschreibungen vorbereitet worden war.3 Der so genannte Cyberspace muss als echtzeitlich gebundener Möglichkeitsraum verstanden werden. Dann kann die paradoxe Raumerfahrung, an welche das Werk appelliert, gemacht werden. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Rezeption von net.art.
Die Arbeit von Shulgin ist konzeptuellen Charakters, denn prinzipiell ist sie angesichts des exponentiellen Wachstums des Internets nicht abschließbar und ebenso nicht absolut rezipierbar. Wesentlich bedeutsamer aber als die Faszination über das simple Erscheinungsbild und die Strenge der Ordnung ist aus meiner Rezeptionsperspektive der behauptete Kontext einer vermeintlichen Unvergleichlichkeit mit Werken aus anderen Kunstgattungen. Hierzu muss man selbstredend die technische Komponente des Automatisierens als wesentlichen Wirkfaktor besonders berücksichtigen. Jedoch spricht meines Erachtens nichts dagegen, die unterstellte Isolation im Netz aufzubrechen und eine deutende Öffnung hin zu dem Projekt Around the World (A.T.W.) von Jårg Geismar zu wagen. Dieser hatte zusammen mit zahlreichen Künstlern und Laien in aller Welt ein Netzwerk aufgebaut, in dem sich die Beteiligten per Fax mit Nachrichten und Kunst verschiedener Erscheinung versorgten, wobei auch das Prinzip der Kettenreaktion eine Rolle spielte und die Metapher einer nichtechtzeitlichen und telematischen Verbindung ähnlich wie bei Refresh zentraler Gedanke war.4 Durch solch einen vergleichenden Kurzschluss wird dieses Werk der frühen Netzkunst kompatibel mit anderer Kunst aus der wirklichen Welt. Sie kann sich dann einem komparatistischen Zugang stellen. Und bei hinreichend kreativen Ausstellungsgestaltern stellt sich auch keine Frage nach der Sprödigkeit und Unausstellbarkeit.
Im übrigen bereitet einem die Unterhaltungsindustrie geradezu ein schlechtes Gewissen hinsichtlich ihrer Kreativität im Erzeugen geldwerter Vorteile für beispielsweise die Plattenindustrie. Immer wieder werden Releases in schönster Aufmachung hergestellt. Immer wieder sind dies dieselben Daten auf denselben Rohlingtypen, welche nicht nur Klingeln in den Ohren sondern auch in den Kassen erzeugen. Was sich ändert ist der Aufdruck, das Doku-Heftchen, die Limitierung auf 10 000 Exemplare als Vorzugsausgabe. Künstliche Verknappung von Ressourcen und kunsthandwerkliche Aufbereitung erzeugen Vermarktungsoptionen und produzieren wiederum auf anderer Ebene Ausstellbarkeiten. Sicher verstößt dieses Ausschlachten gegen das oberste Reinheitsgebot der Netzkunst alter Schule. Doch stellen sich Verfahren der Vervielfältigung und Kapitalbildung vermeintlich intellektueller Güter nicht erst im Zeitalter digitaler Datenverarbeitung quer zu dogmatischen, von Ideologie dominierten Fundamentalismen schnell alternder Propheten der Technikkunst. Vor allem dann, wenn letztere nicht einmal den eigenen Ansprüchen gerecht werden.
Im Gegenteil. Es ist meines Erachtens einfach, sich weiterhin mit der paradoxen Situation vermeintlicher Originalität innerhalb höchst möglicher Automatisierung und verlustfreien Kopierens abzugeben. Refresh erschien in einer Zeit, in der dies vielfach irritierte. Aber wie geht es weiter?
Der Zustand der Absenz eines kritischen Kunstdiskurses auf institutioneller Ebene stellte sich aus einer deutschsprachigen Perspektive eher über den umgekehrten Weg als ereignet ein. Denn bereits am Ende der 1980er, spätestens aber zu Beginn der 1990er Jahre kündeten mehrere Bände des Kunstforums an, dass sich nun die bildende Kunst virtualisieren würde und versuchte zu zeigen, was das sei.5 So ist man versucht zu unterstellen, dass nach wenigen Jahren Faszination bereits zur Documenta X mit ihrer Büroatmosphäre das Interesse beinahe auf Null gesunken war. Gegenläufig also zum allgemeinen Hype der anwachsenden Vernetzung wurde die Kunstszene interesselos und empfand weder Wohlgefallen noch sah sie sich herausgefordert, sich mit dieser neuen technischen Kunst-Arbeit ernsthaft auseinanderzusetzen. Hier wäre zu überprüfen, inwieweit gerade in Deutschland an einigen Instituten die besonders gepflegte Programmierung immersiver Umgebungen und die Aufmerksamkeit der ohnehin kleinen Öffentlichkeit der Interessenten an technisch basierten Künsten magisch auf sich lenken und bündeln konnte und damit den Markt für digitale Künste länger und nachhaltig besetzte.
Definitionen
Vermittelbarkeit
Eins der wesentlichen Probleme ist die Vermittelbarkeit von Netzkunst. Immer wieder stößt man auf alte Bekannte: „Bleibt nicht die Sinnlichkeit auf der Strecke?“ „Ist das überhaupt Kunst, wenn man am Computer sitzt und nichts anderes macht, als zu browsen?“ Diese zwei Fragen sind keineswegs trivial, formulieren sie doch erst einmal ganz undifferenziert das Gerüst für einen noch zu findenden Ansatz, an dem sich Vermittler orientieren können, um Unterscheidungen zu treffen und Qualitätskriterien zu ermitteln. Und sie verdeutlichen, dass es heute eigentlich viel angenehmer wäre, wenn man ebenso selbstverständlich von Netzkunst wie von Malerei oder Skulptur sprechen könnte. Das bereits bestehende Potenzial eingeübter Urteilskraft muss daher auf Netzkunst übertragen werden. Denn damit aber eine zeitgenössische Kunst, die sich der Techniken des Internets bedient, auf ihren Gehalt hin nach gängigen Qualitätsmaßstäben bewertet werden kann, bedarf es der Vergleichbarkeit.
Sinnlichkeit
Der Erklärungsbedarf für Netzkunst ist nach wie vor sehr hoch. Immer noch unterliegt jeder dem Glauben, er verstehe einen Rembrandt, auch ohne den gewissen Blick auf die Kontexte, welche in den Bildern angespielt werden. Aber welchen Rembrandt versteht er dann? Und warum wagt er nicht dasselbe Niveau an Selbstvertrauen in die eigenen Bewertungsschemata, wenn es darum geht, Netzkunst zu rezipieren? Eine Problematik, welche in gleicher Weise zeitgenössische, avancierte Kunst, die sich in der Regel über weniger offene Kontexte wie Literatur speist, betrifft und immer wieder Verunsicherung erzeugt. Mir will es nicht einleuchten, warum der Raub der Sabinerinnen von Giambologna einfacher zu rezipieren sein soll, als der Altarboy von Carlo Zanni. Häufig ist vom Mangel an Sinnlichkeit die Rede. Die Chance zeitgenössischer Kunst und damit auch von Netzkunst besteht nicht in dem Entweder-Oder Schema von Sinnenbetörung und Gedankenanstrengung zu verharren. Vielmehr liegt die Spannung gerade darin, dass neben den antizipierenden, empathischen, taktilen und anderen Eigenschaften auch die Imagination derselben angeregt wird. In einer Arbeit wie dem Wiesbadener Raum von Sascha Büttner, die sich mit den Produktionsbedingungen der Künstleridentität auseinandersetzt, geht es ums Leben selbst, das sich im Prozess der Arbeit abbildet und in einem immer weiter wachsenden Archiv im Internet sedimentiert.6 Hier wird Alltag und Identität hypothetisch geformt und nicht nur mittels hochtechnischer Tricks in Form gebracht. Erstaunlich ist es, dass sich derlei Qualitäten nicht an Netzkunst allein festschreiben lassen, sondern für Kunst allgemein gelten. Dies bestätigt mich in der Annahme, dass Zeit vergangen ist, dass die Parallelen zur Videokunst deutlich werden. Dass es offenbar Mechanismen gibt, die sich wiederholen und mit jeder neuen Technik, welche von Künstlern produktiv angeeignet werden, von neuem ähnliche Abläufe dazu führen, dass es eine Weile braucht, um zu erkennen, wie wertvoll diese scheinbaren Dilemmata sind.
Form
Beschäftigt man sich mit zeitgenössischer Kunst, so ist die Frage nach der Anwendbarkeit eher konservativer – oder wenn man es weniger wertend wünscht: tradierter Bewertungsmuster schnell fortgeschoben. Die zeitgenössische und auch die Netzkunst kennen keine Formprobleme. Mit dem Ästhetizismus, welcher immer mit dieser Fragerichtung verkoppelt wird, ist seit Jahrzehnten Schluss. Ist aber damit die Frage nach der Rolle der einzelnen Bestandteile eines Werks, sagen wir von Jonathan Meese, zueinander und der eventuell daraus sich ergebenden Bedeutung sinnlos? Das kann sein, aber eine solche Kunst stellt keine Anforderungen und wird zum Werbemittel und will auch nichts anderes mehr, als Eigenwerbung sein. Immer wieder begegnet man aber Künstlern, denen es sehr wohl bewusst ist, warum sie dieses und jenes zueinander bringen, erforschen, koppeln und wieder rückkoppeln und sei es auch noch so banal. Damit entstehen neben den sicht- und lesbaren Teilsinnlichkeiten auch intellektuelle Phänomene, die sich in bestimmten und bestimmbaren Relationen zueinander befinden. Mit dem Ergebnis, dass man nach eingehender Rezeption dazu hingerissen wird, selbiges komplexes Werk als gelungen zu empfinden und zu denken. Nimmt man als außergewöhnlich gutes Kardinalbeispiel hierzu Cornelia Sollfranks net art generator, eine komplexe Maschine, die ihre eigene Kunstgeschichte schreibt und aktualisiert.7 Der Künstlerin ist es in beispielloser Weise gelungen, eine – wie ich sagen möchte – systemische Plastik zu erschaffen, deren Abschluss längst nicht in Sicht ist. In diesem Komplex werden das juridische, das soziologische, das informatische und das künstlerische System unserer Gegenwart miteinander unauflöslich in einen sinnstiftenden Bezug zueinander gesetzt. Das Internet ist im übrigen nur ein Teil des Arbeitsfeldes und -materials der Künstlerin, wenn auch ein wichtiger. Sollfrank bedient sich verschiedener Publikationsweisen, unter anderem auch des Buchs. Sie erforscht und publiziert die Äußerungen von Juristen zu Fragen des Copyrights, wenn es darum geht, herauszufinden, welchen juristischen Status Motive besitzen, die mit Copyright-Beschränkungen belegt sind, aber als solche nicht nur materiell, sondern auch in ihrer Anmutung verändert sind. Dabei kann es passieren, dass die Möglichkeit zutage gefördert wird, in Form einer Präzedenzklage den Warholschen Flowers das Copyright streitig zu machen bzw. abzusprechen. An diesem Punkt spätestens erkennt man, dass das Internet zwar wichtiger Bestandteil ist, aber eben auch wichtiger Faktor der Gegenwart allgemein. Und damit macht die Exklusivität klassischer Netzkunst einer allgemeinen künstlerischen Arbeit Platz.
Dilemmata als Beschleuniger der Welterfahrung
An diesem Punkt wird Netzkunst zu einem begrifflichen Problem. Kann man dann überhaupt noch von ihr als solcher sprechen? Ist sie nur inkorporiert in einen größeren Kontext der Gegenwartskunst? Diese Fragestellung ist keineswegs akademisch. Sie führt letztlich immer dazu, nach den komparativen Momenten zu suchen. In diesem Sinn öffnet sich die Perspektive: Ich bin der Überzeugung, dass es noch viel zu wenige Ausstellungen gibt, welche sich in dieser Weise mit der Netzkunst auseinandersetzen, in dem sie Arbeiten ganz selbstverständlich zeigen. Auch wenn damit eine Irritation zusammenhängt. Daher wäre ein Schritt aus dem Dilemma, dass es gerade die Vermittlung zu leisten habe, Kunst als Kraftfeld der Möglichkeit von Unverständlichkeitsräumen und Irritationen positiv zu definieren. Wenn diese Potenz der Kunst als selbstverständlich erachtet würde, gäbe es wohl weniger Vermittlungsschwierigkeiten.
Netzkunst irritiert mit mindestens zweierlei Weisen: Inhaltlich sind ihre Unterwanderungen der linearen Sinngebungsverfahren unserer Alltage und Medien in gleicher Weise erfolgreich und effizient wie diejenigen herkömmlicher Kunst. Jedoch stellt sich ein zusätzliches Moment der Unverständlichkeit ein, das ich mit dem Einbruch des Technischen in den musealen Raum umschreiben möchte und das sich auf das Material bezieht. Immer wenn ein technisches Gerät im Ausstellungsraum den gewöhnlichen Parcours von Bild-Skulptur-Installation-Dokumentation um einen weiteren Wendepunkt erweitert und dieser in seiner leicht verstandenen Alltagsfunktion als Instrument der Partizipation erkannt ist, beginnen die Schwierigkeiten. Ich bin der Überzeugung, dass ein Pissoir heute im Museum eher als wertvolle Kunstäußerung akzeptiert wird, als eine Installation von Joan Leandre, in der man neben einer Leinwand auch einen Joystick vorfindet. Dumm nur, dass derartige Situationen aus klassischer Perspektive dann immer gleich mit der Vokabel unsinnlich belegt werden.
Fremdheit und Gewöhnung
Es scheint aber ein wenig zu trivial, wenn man behaupten wolle, dass sich dieses Problem durch Gewöhnung lösen ließe. Aber warum akzeptieren Museumsbesucher Schrankwände mit Schubladen, Bücherregale mit ausgesonderten Titeln einer Museumsbibliothek als Interfaces für partizipatorische Installationen und lehnen technisches Equipment wie Bildschirm oder Joystick ab? Es hat etwas mit Gewohnheit und den zumeist gescheiterten und scheiternden Ausstellungsexperimenten zu tun. Damit verbinde ich aber die Aufforderung, weiterhin die Probe aufs Exempel zu machen. Netzkunst hat – sofern es Sinn macht – nur in der Integration in den normalen Betrieb eine Perspektive, die es zu schaffen und zu nutzen gilt. Es lassen sich nämlich mit ihr Erfahrungen machen, welche von anderen Werken nicht geleistet werden können. Auch dies klingt nach einem Gemeinplatz, aber man muss sich doch immer wieder fragen, worin das Besondere eines materialen Einbruchs von Internettechnologie in ein Kunstwerk liegt. Und das heißt eben auch, dass die Möglichkeit ganzheitlich-sinnlichen Kunsterlebens, so wie es abgeschlossene, an einem Ort wie dem Museum gezeigte Arbeiten anbieten, in der Regel durch Netzkunst konterkariert wird. Daraus ergeben sich produktive Irritationen wie sie eben nicht durch herkömmliche Kunst auf Phänomenebene angeboten werden können. Das Herstellen einer Werkerfahrbarkeit, deren Qualität vor allem in einer uneinholbaren und nicht zu homogenisierenden Erfahrung des Trennenden, Asynchronen, Simultanen, Relativierenden liegt, dies ist meines Erachtens Grund genug, alle Dilemmata um Netzkunst als produktive Hintergründe für Möglichkeitsräume zu begreifen.
Fußnoten
1 Der durchschnittliche Klang dieser ganz eigenen Gattung von Texten zum Thema ist von Larmoyanz und Zynismus durchtränkt. Wenn man z. B. den Reader es Media Arts Lab liest (S. Künstlerhaus Bethanien (Hg.): esc. Berlin 2002), zeigt sich sehr schnell, dass es nicht um die Erkenntnisse über Kunst und Kunstwerke geht, sondern um Strategien der Behauptung. Argumentiert, im Sinne nachvollziehbarer Recherchen und Aufzählungen von Qualitäten im Widerstreit, wird niemals. Über die Arbeiten der Netzkunst erfährt man, dass sie zum sterben verurteilt waren, aber nicht mittels phänomenorientierter Verstehensprozesse.
2 S. Haase, Amine: Kunst oder Apotheke?, in: Kunstforum Bd. 175, S. 34 f.
3 Das sind beispielsweise Telegrafie und die Relativitätstheorie.
4 S. Rüth, Uwe: A.T.W. Past, Present, Future. Marl 1991, zgl. Ausst. Kat. Skulpturenmuseum Glaskasten Marl 14.7. – 25.8.1991. S. auch http://www.atw.org.
5 S. Kunstforum Bde. 97, 98, Die Ästhetik des Immatieriellen (1988, 1989) sowie Band 103, Im Netz der Systeme (1989); aber schon zehn Jahre später erscheint der Band 148 von Florian Rötzer: Ästhetik der Aufmerksamkeit (1999), der sich mit dem Netz nur noch aus thematischer Sicht beschäftigt. Eigentlich eine löbliche Entwicklung, allerdings hatte man zu dieser Zeit vermehrt den Eindruck, es gehe nicht so sehr um Kunst als um alles andere.
6 S. http://wiesbadener-raum.com. Offline (7. September 2008)
7 S. http://soundwarez.org/generator/.
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