Motiv: Aus der Installation in Marl im Rahmen der Knotenpunkte
Foto: Matthias Kampmann
Anmerkungen zur künstlerischen Arbeit von Richard Kriesche
Spätestens mit den immer schneller aufeinander folgenden „schwarzen Montagen“ an den Börsen und dem Kulminationspunkt im internationalen Bankensterben während des Herbstes 2008 gewinnt die künstlerische Arbeit von Richard Kriesche eine, zum Zeitpunkt der ersten Konzeption und Realisierung seiner Auseinandersetzung mit der Suchmaschine „Google“, nicht unbedingt vorhersehbare, umso eindringlichere Aktualität. Als sich vor eineinviertel Jahren in seiner Installation „Die Æsthetik des Kapitals – das erste Kunstwerk einer neuen und das letzte einer alten Epoche“ ein stark blauer, projizierter Lichtschleier über die Jubiläumsausstellung von Meisterwerken aus der Sammlung des Skulpturenmuseums Glaskasten in der Ruhrgebietsstadt Marl legte, betonte diese Intervention zunächst einmal auf extreme Weise die Verwerfungen auf dem Kunstmarkt ( S. «Knotenpunkte. Eine Ausstellung mit sieben KünstlerInnen an sieben Orten in NRW», Kat. der gleichnamigen Ausstellung16. September bis 11. November, S. 120-145.). Dass sich die Lage auf den profaneren Handelsplätzen innerhalb eines Jahres derart zuspitzen könnte, war nicht unbedingt für Laien vorausschaubar (S. http://de.wikipedia.org/wiki/Finanzkrise_2007/2008). Mitte September – der Zeitpunkt hätte trefflicher nicht sein können, fällt er doch mit der Hiobsbotschaft vom Bankrott der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers zusammen – verhökerte Damien Hirst im Rahmen von zwei Sessions und unter dem Deckmantel zeitgenössischer bildender Kunst 223 Losnummern über das Auktionshaus Sotheby’s (Link gültig am 11.10.2008; nicht mehr zugänglich am 21.05.2020)). Und zwar direkt, ohne Umwege über eine Sammlung, eine Galerie. Die verhalten kritischen Medien bezeichneten den Vorgang als einen „Coup“. Dem Miterfinder der Young British Art verhalf der bis dato beispiellose Akt zu 111 Millionen britischen Pfund Umsatz; als Erlös, spekulierten Kenner, seien 50 Millionen in seiner Kasse übrig geblieben. Einhellige Meinung nach der Analyse: Den Kunstmarkt ergreifen die Schwankungen des Wirtschaftssystems nicht. Es gebe hinreichend Käufer mit unvorstellbaren Kapitalmengen, die sich mit angesagten Artefakten ausstatteten.
Wie konfus, wie undurchschaubar ist die globalisierte Gegenwart? Und wie ungewiss ist die Zukunft einer der wichtigsten Errungenschaften, auch „Projekt“ genannt, westlicher Gesellschaften, der Aufklärung nämlich? Mit Blick auf wen und was? Woraus resultiert die Notwendigkeit des zugegebenermaßen persönlichen Gedankens, diese Fragen im Rahmen eines Textes zu stellen, der sich mit einem Werk der bildenden Kunst, der Arbeit des Zeitgenossen Richard Kriesches, auseinandersetzt? Von einer übergeordneten Ebene betrachtet, fällt die Antwort auf diese konzentrisch sich zuspitzenden Fragen leicht. Sie ergibt sich aus den im Werk des Künstlers angelegten Pfaden zur außerkünstlerischen Wirklichkeit sowie dem Blick auf den gegenwärtigen Zustand des Kunstsystems. In Marl überzogen nämlich nicht nur Farben die „Wirtschaftswerte“ der jüngeren Kunstgeschichte in Form von Plastiken, Skulpturen und Assemblagen von Gaugin über Matisse und Giacometti bis Nam June Paik, sondern jene Fieberkurven, die wir aus den täglich publizierten Nachrichten der Börse kennen. Nur war die Handlungsware in Kriesches Fall Information, besser, Daten. Mittels einer Visualisierungssoftware, die auch bei Börsianern zum Einsatz kommt, stellte die Installation aus acht Projektionen dar, wie die verschieden kombinierten Begriffe Kunst, Arbeit, Kapital und Freiheit in programmierten Suchroutinen täglich neue Trefferhäufigkeiten aus Vorkommen derselben in der globalen Datenbank namens Internet erzeugen. Wie auch nun aktualisiert im Kunsthaus Graz, handelte es sich in Marl um Echtzeit-Abfragen an den Suchmaschinen-Giganten Google. In gleichbleibenden Rhythmen zeigten sich so dem Besucher immer wieder neue Raum-Bilder dar, die auf tiefem Blau mit gezackten weißen Linien jene Kunstwerke und den Betrachter gleichermaßen einhüllten und damit re-kontextualisierten, auf- und verklären zugleich.
Eins der ursprünglichsten Felder, das die Kunst in ihrer Geschichte bestellte, ist der Acker des Irrationalen. Operationale Leerstellen mussten Betrachter mit eigener Imaginationsgabe anfüllen. Niemals konnte man sich sicher sein, ob eine aufgespürte Bedeutung vor welcher Instanz überhaupt Bestand hatte. Auf diese Weise kam beispielsweise auch die Interpretation in Verruf, und der Interpret sah sich immer dem Vorwurf ausgesetzt, keine eindeutig verifizierbaren Ergebnisse abgeliefert zu haben. Das Blatt hat sich gewendet. Beziehungsweise dringt es nun in der derzeitigen Lage erst vollends zu Bewusstsein, dass die vermeintliche Faktizität der Zahlen auf dem Prüfstand der Gegenwart versagte. Nichts ist mehr sicher angesichts der Krise der Finanzmärkte. Der Außenstehende vermag jetzt erst umfänglich erkennen, wie die Händler rund um den Globus irrational mit scheinbar rationalen Summen operieren. Experten sprechen von Psychologie, wenn es um die Börse geht. Mit dem Bild eines manisch-depressiven „Organismus” belegen Fachleute das Geschehen und die Tätigkeiten am Geldmarkt. Die Kunst tritt demgemäß ihre Vorherrschaft auf ihrem ureigenen Terrain, das Königreich der Ein-Bildungen, an Broker, CEOs und den gesamten Tross von Entscheidern und Subalternen ab. An diesem Ort findet sich ein Quantum an Performance, demgegenüber die Kunst mit herkömmlichen Mitteln nur blass aussieht. Hingegen kommt dem staatlichen Handeln die Rolle des rationalen Therapeuten zu. Es sollte neutral sein, quasi erhabene Instanz eines Außen, das mit seinem Wirken das Innen des deregulierten Markts wieder zu sich führt, wenn dieses einmal außer sich war. Damit teilt jene Vorstellung, jenes Imago einer Staatlichkeit, die in der Praxis der jüngsten Zeit zu den Stützmechanismen milliardenschwerer Bürgschaften geführt hat, Eigenschaften mit ästhetischen Funktionszuschreibungen an die Kunst, mithin der Kunst selbst. Und versandet im schlimmsten Falle im Agitprop. Indienstnahmen der Kunst, zu welchem Zweck oder zu welcher Ideologie auch immer, sind zum Scheitern verurteilt. Wenn aber die Fiktion auf Seiten des Marktes ist, wo bleibt dann der Raum für die Kunst?
Richard Kriesches künstlerische Arbeit ist eine Antwort auf diese Frage, denn sie zeichnete sich immer schon durch das Experiment, Grenzüberschreitung und eine dezidierte Kritik an bestehenden Verhältnissen oder der Geschichte und ihren Symbolen aus: ob dies in seiner Auseinandersetzung mit dem Reaktor-GAU in Tschernobyl („Tschernobyl Sarkophag”, 1987), der Konnektierung mit russischen Kosmonauten während des „ARTSAT”-Projekts (1991) war, der gläserne Lift neben der Mariensäule am Eisernen Tor in Graz (2003), oder seine Transformation eines Nazi-Gemäldes in der Offiziersmesse einer Kärntner Kaserne (2007). In seiner jüngsten Arbeit kulminiert dies, denn erstens zeigt sich auf einer inhaltlichen Ebene die Kritik an den bestehenden Verhältnissen affirmativ mit Werkzeugen des Marktes und Strategien seiner Kunst. Zweitens geschieht dies über die künstlerischen Mittel, eben durch Verwendung, Aufnahme, Darstellung und Durchkreuzung elektronischer Datenverarbeitung. Denn neben dem absurden Kosmos der Hochfinanz und dem Kunstmarkt, welche beide auf das Heftigste mit überlieferten Vorstellungen über Ästhetik kontrastieren und konfligieren, ist zu berücksichtigen, dass beispielsweise Malerei und Bildhauerei nicht dazu in der Lage sind, den Status des Illustrativen zu überwinden. Und eine Figur wie Damien Hirst belegt, dass Bilder lediglich Komplizen dieses korrumpierten Marktes sind. Erst eine Kunst in und mit den neuen Medien, die gleichermaßen auch die Funktionsweisen derselben nutzt sowie kritisch durchkreuzt und nicht bloß, wie in ihrer breitenwirksamen Erscheinung noch in den achtziger und neunziger Jahren die Phantasmen der Virtualität illustriert, gibt sich als Kunst der Gegenwart ein Antlitz, das auch mit Blick auf Dauer, den Anspruch als Kulturgut zu firmieren erfüllt. Im Kunsthaus Graz nun erweitert Richard Kriesche seine „systemische” Plastik erneut, indem er quasi ein derart kategorisierbares Selbstporträt erzeugt. Denn es sind hier nun nicht die Wirtschaftswerte einer Museumssammlung, sondern der ausgestellte Rückblick auf vier Schaffensjahrzehnte, überblendet durch den visualisierten Datenstrom. Das weist auf Zukünftiges hin.
Die sogenannte digitale Revolution ist längst nicht passé. Größte Umbrüche stehen noch bevor. An die Türen zu unseren Gesellschaften klopft bereits das „Internet der Dinge“, eine Digitalisierung, sprich Vernetzung, selbst nebensächlichster Gegenstände und Güter. Die konsumeristisch definierte Ordnung bringt in ihren Laboren und Thinktanks Objekte hervor, die in einer trivialisierten Form mitdenken (s. z. B. Gershenfeld, Neil: Wenn die Dinge denken lernen. München, Düsseldorf (Econ) 1999.). Banal: Der Kühlschrank sendet Signale, wenn die Lebensmittel aufgebraucht sind, ein Stück verdorbenes Fleisch meldet sich beim Erzeuger und wird automatisiert ausgetauscht, und während des Einkaufens bekommt der Kunde – sofern er sich überhaupt noch in ein Geschäft bewegt – gar nicht mehr mit, ob er nun bezahlt hat, oder nicht. Denn der Kunde bewegt seinen Korb mit den „intelligenten“ Gütern nur mehr durch eine Schleuse, und ein Scanner registriert alles, was sich darin befindet. Und vervollständigt aus den Daten bisheriger Einkäufe automatisch ein Kundenprofil und „versorgt“ den Käufer sogleich mit treffenden Sonderangeboten, gewährt Rabatte. Interessanterweise ist es die Logistikbranche mit Forschungszentren wie dem Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund, welche an der Speerspitze der Automatisierung des Alltags immer neue Erkenntnisse generiert und neue Techniken realisiert. Längst geht es nicht mehr nur darum, Dinge von A nach B zu transportieren. Nicht viel weniger als „die Konvergenz von der virtuellen Informationswelt des Internets mit der realen Welt“ steht auf dem Stundenplan (s. http://de.wikipedia.org/wiki/Internet_der_Dinge). Diese Vorstufe der totalen Integration des Technischen in das Persönliche – abgeschlossen ist der Prozess dann aber erst, wenn wie in den Cyborg-Phantasien der Science Fiction, auch der kümmerlichste Rest des natürlichen Menschenkörpers in das System integriert ist – lässt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht exakt erkennen, welche soziologischen Folgen mit ihr einhergehen. Jedoch die Abstraktion von bisher gelebten Weltbezügen, das zunehmende Entfremden des Selbst von seinen Umständen mit allen Unzulänglichkeiten wird die Folge sein. Wie eine Kralle greift der Kommerz zu und weit in das Private hinein – absolute Immersion. Und zwar unter dem Deckmantel der Freiheit (damit einhergehende Probleme des Datenschutzes und der persönlichen Integrität liegen auf der Hand). Die „Agonie des Realen“ sowie der damit einhergehende Verlust von Selbstbestimmung und Freiheit ist also im ubiquitär anwesenden Computing eines Systems der Vernetzung zwischen allen und allem und nicht, wie Jean Baudrillard Ende der siebziger Jahre vermutete, in der Simulation zu finden.
Diese und zukünftige Lagen verlangen eben nach Ausdrucksmitteln, die nachvollziehen und erfahren lassen, was uns geschieht. Umsturz oder Kehrtwenden durch die Kunst sind zwar nicht zu erwarten, denn Revolutionen gegen ausbeuterische Gesellschaftssysteme vollziehen nicht die Künstler, sondern werden allenfalls von ihnen vorhergesehen, angeregt oder zum Vorschein gebracht und, wie im Falle der Kunst Richard Kriesches, auch nachvollziehbar. Dennoch verdankt sich das Altmodische eines Denkens im Sinne der Aufklärung dem Glauben an einen moralischen Appell, dass die Kunst Stellung beziehen muss. Derzeit kann kaum eine künstlerische Gattung für sich in Anspruch nehmen, Relevanz und Bedeutung auf der Höhe ihrer Zeit und angesichts der Imperative aus Markt und Technologie zu generieren, wenn sie nicht dezidiert Medienkunst ist. Und dies im denkbar weitesten Sinne ihres Begriffs.
Die augenblicklich angeregten Debatten über sogenannte „gute“ oder „schlechte“ Kunst durch Texte, die Holger Liebs in der Süddeutschen Zeitung mit dem wunderbaren Kompositum „Machete-Literatur“ charakterisierte, offenbaren allerdings gravierende Unsicherheit sowohl der Laien als auch professionellen Rezipienten. Und sie belegen gleichermaßen, wie antiquiert das offizielle Kunst-System ist und die eigentlichen, sinnträchtigen Positionen ausgeblendet und falsche Fragen im Terrain der Vermittlung gestellt werden. Man diskutiert hinsichtlich der jüngeren und jüngsten Kunstgeschichte lieber über Qualitätsprobleme. Leider führt das zu nichts als der Generierung merkantiler Kriterien, denn was sagt ein vermeintlich qualitatives Urteil à la „das ist gute Kunst“ schon aus, wenn das Kernadjektiv „gut” als Plastikwort lediglich einen zähen Brei indifferenter Signifikate birgt, außer dass sich damit auf flotte Weise Preise bestimmen ließen? Mit der Potenz einer aufklärenden, diskursiven auch divergenten Rezeption offenbart sich derlei in seiner Sinnlosigkeit. Was aber, wenn die Antworten längst auf der Hand liegen, beispielsweise in den Arbeiten von Richard Kriesche? Denn dort spiegeln sich Geschichte, Gegenwart und Zukunftsoptionen nachhaltig in einer adäquaten ästhetischen Weise, die zu einer im besten Wortsinne kritischen, nämlich differenzierenden Auseinandersetzung anregen.
Erschienen in: Richard Kriesche. Capital + Code. Köln 2008