Was Barock und Gegenwart gemein haben könnten.
Ingrid Bergmann haucht: „Spiel das Lied noch einmal, Sam. Denk an die alten Zeiten.“ Was verkündet dieser Satz anderes, als ein formalisiertes Erinnern? Eine Frau bittet einen Musiker um ihr Lieblingslied, auf dass es freisetze, was im tristen Alltag des politisch heiklen Nordafrika zur Zeit des Zweiten Weltkriegs verschüttet wurde. Ein entrückter Zustand temporärer Glückseligkeit, auf dass nur für den Moment die Ewigkeit erfühlt, erlebt, ersungen werden kann. Denken wir uns doch Casablanca und Co. beiseite und nehmen dieses Rollenspiel zum Anlass für Variationen über ein Thema des Barock.
Mit Heinrich Wölfflin setzt in der abendländischen Kunstgeschichte eine erste Wertschätzung und Umwertung der einst als „schiefrunde Perle“ verpönten Kunst ein, und eben auch dieser nicht wirklich definierten Epoche. Riemann nannte sie das „Generalbasszeitalter“, Historiker schreiben über die „(Frühe) Neuzeit“, nur Kunsthistoriker sind da unbefangen, stützen sich auf ihren Wölfflin und reden munter vom Barock, als wenn der nur aus eindimensionalen Stilkriterien und einfach zu erfassenden Bedeutungen bestünde. Aber so leicht macht es uns diese Zeit nicht, die in jeder Disziplin vielfältige Diskurse über die Jahre zwischen dem ausgehenden 16. und beginnenden 18. Jahrhundert evoziert hat und diese immer wieder neu entfacht und lebendig hält.
Emotion, Ausschweifung und Bild sind Partner im Barock. Betrachtet man die Heilige Theresa von Avila durch die Stein gewordene Imagination eines Gianlorenzo Bernini, erkennt man, warum die Heilige, welche durch psychotechnische Tricks oder Krankheit mystische Vereinigungen mit Christus erleben konnte, vom Klerus so misstrauisch beäugt wurde. Denn die Torsionen der Leidenschaften mussten rhetorisch gebändigt werden. So, wie es das Vokabular der Affekte zeigt, welches die Musik bestimmt. Für barocke Bildwelten wiederum gilt, was Jean Baudrillard formulierte: „Hinter dem Barock der Bilder verbirgt sich die graue Eminenz der Politik.“ Dies im Hinterkopf relativiert das Unbändige und setzt es in eine geregelte Sprache. Die Leidenschaft musste in rationale Ordnungen gezwungen werden, was eine Stilisierung im Leben wie in der Kunst zur Folge hatte. An den Akademien des Barock hatten Mathematik und Physik Hochkonjunktur. Die Verwandtschaft zwischen Sinnen und Maschinen wurde in der Zeit nach Descartes begründet. Der Philosoph Blaise Pascal erfand eine Rechenmaschine; und Gottfried Wilhelm Leibniz erfand das System der Darstellung von Zahlen in Nullen und Einsen. Er ist einer der Gründerväter des Computers.
Wie wird die Welt in Form gebracht? Der barocke Garten ist Zeuge des symmetrischen Ordnungswillens. Die Musik bändigt Emotionen in einer ausgeklügelten Affektenlehre. Die Zahlen werden durch Null und Eins gebändigt, und in der Malerei wird die Emotionalität religiöser Hochstimmungen in die Mehrfachperspektiven eines Paters Pozzo gezwungen, um lebendig wie nie zu wirken. Zu sehen in der Himmelfahrt des Heiligen Ingatius von Loyola, Stammvater der Jesuiten, in der Kirche San Ignazio in Rom. Symptome für einen Kultur-Ruck, der eine Abwendung von der Achse des Ego zeigt.
Für die Gegenwart ist der Barock eben daher eine Schlüsselepoche. Wenn heute die Rede vom Iconic Turn ist, der die Geschichte von einer vernunft- und sprachorientierten Gesellschaft in eine Bild bestimmte beschreibt, vernachlässigt dieser die regulierenden Politiken des Bildes. Und gerade diese sind es, welche aus der Bilderflut der Gegenwart erneut mit ähnlicher Konstruktion und Absicht sprechen. Simulation im Computer ist ohne Leibnizsche Rechenvorgänge und Pozzos Bilderfindungen nicht denkbar. Man könnte Baudrillard abwandeln und schreiben, dass hinter dem Flirren der Pixel die graue Eminenz des Konsums steckt, welcher an den Kassen der Kinos, der Kaufhäuser und Spielotheken, oder aber im Rekonstruktionsflug durch die Dresdner Frauenkirche Emotionen berechnet und berechenbar werden lässt: „Spiel das Lied noch einmal, Sam.“
Dieser Text entstand anlässlich des Münsteraner Barockfests 2003 für das Kulturamt der Stadt Münster.
Unter Verwendung einer Fotografie von Anthony Majanlahti, November 11, 2005, Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Image:Sant%27Ignazio_-_affresco_soffitto_-antmoose.jpg
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