Andenken einer Nähe in künstlerisch-mutuellen Medien-Umgebungen
Kittleriana 1
Es scheint ein merkwürdiges Faktum zu sein, dass telematische und das heißt technisch begründete und auf technischen Gründen funktionierende Umgebungen oder Medienverbünde nur eines so intensiv herbei rufen, was ihnen selbst ausschließlich als Negativum, als anscheinend äußeres Anderes implizit zu sein scheint, und das ist Nähe. Diese Merkwürdigkeit produziert Denkwürdigkeit. Ein Blick auf die Entwicklung der Leseweisen setzt uns in den Stand, dieses seltsame Verspüren von Nähe technisch zu verstehen. Wie F. A. Kittler (Aufschreibesysteme 1800 – 1900. München 1987 und Optische Medien. Berlin 2002) nahe legt, ist es ab 1800 vorbei mit der offenen Lektüre in Lesezirkeln, einer formalisierten Erziehung zum Lesenkönnen qua zerstreuter Gruppen und Stände. Ab 1800 wird nämlich die Mutter zur zentralen Instanz der Kulturvermittlung, und gelesen wird fortan leise.
In der Romantik setzten Schriftsteller ins Wort, was die Gegenreformation als Bilderoutput von Malern des vor allem römischen Barock an die Wände der Kirchen und auf Leinwände halluzinierte oder von katholischen Bildingenieuren qua Camera Obscura vorgaukelte. Erst jetzt kann davon ausgegangen werden, dass in den Köpfen der Subjekte, welche ebenfalls ungefähr zu dieser Zeit zu selbigen wurden, aus Buchstaben lebendige Vorstellungen, Bilder oder Halluzinationen wurden. Da sich bis heute daran nicht viel geändert hat, kann man uns nur zuschreiben, dass wir selbst unheilbar romantisch sind. Nach dieser kleinen Technopathologie der vergangenen 200 bis 300 Jahre muss sich auch das Internet als Verstärker lesen lassen (im Unterschied zur Camera Obscura, die sich sehen lässt). Denn unabhängig von den ursprünglichen Grabenkämpfen zwischen Ikonodulen und Ikonoklasten (in persona Tim Berners-Lee und Marc Andreesen, welche im Allgemeinen immer als die wichtigsten Erfinder des WWW und damit des Internets gelten, so wie es heute jeder durchschnittliche Mediennutzer zu verstehen glaubt), ist und bleibt das Netz ein Text für sich und eine Text mediatisierende Infrastruktur – und auch dann noch, wenn einige Computernutzer wie Neil Stephenson (Die Diktatur des schönen Scheins. München 2002) anderes behaupten.
Und alle Fantasmen, seien es nun die des kleinen, nach Ruhm gierenden Nachwuchsprogrammierers, der einen Wurm schreibt und damit von einer uninformierten Gesellschaft auf dem Altar ihrer eigenen Unwissenheit und zu Gunsten eines Software-Unternehmens aus Redmond, USA, geopfert wird (wobei frei nach Blixa Bargeld der Nachrichtensprecher ein ehrliches Gesicht trägt), oder seien es die Verheißungen der großen Provider, die uns einen barocken Tunnelblick mithilfe der Scheinheiligen unserer TV-Gegenwart («Bin-ich-schon-drin-Boris») einreden wollen: Immer noch gilt, dass gerade weil wir doch immer noch Text auf flachen Textträgern sehen, die mit der Zeit immer noch flacher werden, und im Kopf ganz romantisch zu Vorstellungswelten synthetisieren oder lauffähig machen, beschreiben wir diese Basis allen Vernetzens durch den Computer als Textverarbeitung. Und diese Erfahrungen lassen sich demgemäß als romantische Literatur auslegen. Daher wundert es nicht weiter, dass in den wohl ältesten künstlerischen Auseinandersetzungen mit telekommunikationsfähigen Apparaturen immer etwas Protokollarisches, Schriftliches, Textliches mitspielt. Seltsamerweise ist es nun so, dass gerade da sehr augenscheinlich der nüchternste Netzgebrauch vorliegt. Daher ist – unabhängig vom möglichen Hemmnis des Ephemeren – diese Kunst weder populär noch besonders weit verbreitet bzw. bekannt. Zwar ist auch sie in der Romantik verwurzelt, weshalb wir heute immer noch sehr fasziniert sind von der Relation zwischen Nähe und Ferne in technischen Umgebungen, jedoch spiegelt sie dies nicht nur inhärent. Im mutualen Gemeinschaftskonstrukt des Serverfestivals beispielsweise findet sich ein Bekenntnis zum Text gleichermaßen wie zur Angemessenheit des Tuns an ein Textübertagungsmedium. Allerdings muss klar sein, was denn unter Nähe und Ferne im Zusammenhang mit künstlerischem, technisch basierten Konversieren gemeint sein könnte. Und das ist und bleibt das Halluzinat als Inhalt und Resultat des romantischen Leiselesens.
Leipzig im Mai 2004