Matthias Schamp, Jahrgang 1964, ist ein Künstler, der den Alltag ernst nimmt und ihn mittels semantischen Kapriolen gleichermaßen aufs Korn wie auf die Schippe nimmt. «Realitätsunterstützende Maßnahmen» ergreift er gern – so heißt etwa einer seiner Katalogtitel – und vermittelt eine andere Perspektive auf unsere so vernunftorientierte Wirklichkeit. In meinem Portemonnaie trage ich seit einigen Jahren ein kleines Zertifikat mit mir herum. Es besteht aus nichts anderem als einer visitenkartenkleinen Pappe, auf der gestempelt steht: «Dieses Zertifikat bestätigt die Existenz der eigenen Nase als Sichtfeldrandskulptur.» Mit großer Präzision oktroyiert der den gewohnten Dingen einen Widerpart, der nicht minder sinnvoll wie witzig ist. Aus dem Alltag und der Umgebung des Künstlers erwuchs ein erstaunliches Projekt, das Situative Brachland Museum, zu dem er Künstler einlud, Werke zu erschaffen, die entgegen der Kunstmarktgepflogenheiten über den Zaun einer Brache in der Bochumer Innenstadt geworfen wurden und seit einiger Zeit in der Ruhrstadt einigen Staub aufwirbeln. Über das vieldeutige Projekt und seine Hintergründe sprach Matthias Schamp mit mir (14.11.2011).
Matthias Schamp im Interview (14.11.2011)
Matthias Schamp, Jahrgang 1964, ist ein Künstler, der den Alltag ernst nimmt und ihn mittels semantischen Kapriolen gleichermaßen aufs Korn wie auf die Schippe nimmt. «Realitätsunterstützende Maßnahmen» ergreift er gern – so heißt etwa einer seiner Katalogtitel – und vermittelt eine andere Perspektive auf unsere so vernunftorientierte Wirklichkeit. In meinem Portemonnaie trage ich seit einigen Jahren ein kleines Zertifikat mit mir herum. Es besteht aus nichts anderem als einer visitenkartenkleinen Pappe, auf der gestempelt steht: «Dieses Zertifikat bestätigt die Existenz der eigenen Nase als Sichtfeldrandskulptur.» Mit großer Präzision oktroyiert der den gewohnten Dingen einen Widerpart, der nicht minder sinnvoll wie witzig ist. Aus dem Alltag und der Umgebung des Künstlers erwuchs ein erstaunliches Projekt, das Situative Brachland Museum, zu dem er Künstler einlud, Werke zu erschaffen, die entgegen der Kunstmarktgepflogenheiten über den Zaun einer Brache in der Bochumer Innenstadt geworfen wurden und seit einiger Zeit in der Ruhrstadt einigen Staub aufwirbeln. Über das vieldeutige Projekt und seine Hintergründe sprach Matthias Schamp mit mir.
Matthias: Also Brachland. Exterritorialisiertes Museum Bochum. Wie kamst Du darauf?
Matthias: Der Ausgangspunkt ist eigentlich ein fundamentales, persönliches Interesse an dem Gelände: Ich bin auf der circa 4,5 Hektar großen Fläche, die unmittelbar an die Bochumer Innenstadt angrenzt, regelmäßig und gerne spazieren gegangen. Plötzlich war da ein Zaun. Erst habe ich mich mittels eines offenen Briefes an den Bauderzernenten dagegen verwandt.
Der Baurat hat in der Tageszeitung eine Antwort auf diesen Brief angekündigt, die aber niemals erfolgt ist. Aber wozu ist man Künstler? Also hab ich auch eine Kunstaktion am (bzw. über den) Zaun gemacht, das «1. Bochumer Brachenbrechen / Unbotmäßiges Übersteigen eines unsinnigen Zauns». Anfang dieses Jahres habe ich dann der Stadt angeboten, unter dem Begriff «Situatives Brachland Museum» ehrenamtlich und ohne irgendwelche Kosten für die Stadt, auf dem Gelände Veranstaltungen zu organisieren. Ich dachte z. B. an Künstlergespräche am Lagerfeuer. Das hätte sich durchaus auf einem sehr hohen Niveau bewegt. Dies ist dann abgelehnt worden mit der Begründung: Wenn man es mir erlaube, könnten ja auch noch andere kommen. Man stelle sich das mal vor: Auch noch andere Initiativen könnten – ohne dass damit irgendwelche Kosten für die Stadt verbunden wären – Veranstaltungen planen auf einem Gelände, das sonst in keiner Weise genutzt wird. Oh Schreck! Es gibt auch noch ein paar andere lustige Implikationen: Bei dem Gelände handelt es sich nämlich um das Bochumer «Kreativquartier», eines der Leuchtturmprojekte von Ruhr 2010. In Wahrheit also das Potemkinsche Oberdorf dieser an Potemkinschen Dörfern so reichen Kulturhauptstadt. Außer einem neuen Lidl und dem Zaun ist da nichts geschehen.
Ich habe dann angefangen, zu überlegen, wie sich das Gelände künstlerisch bespielen lässt ohne es zu betreten. Und irgendwann war dann die Idee da, die Kunstwerke einfach so über den Zaun zu werfen.
Matthias: Aber jetzt nicht mehr allein? Wie viele seid Ihr? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?
Matthias: Jeder verfügt ja nur über ein bestimmtes Maß an Zeit-, Energie- und Geldressourcen. Und bei dem, was ich mache, ist es hinsichtlich aller drei Faktoren oft eine knappe Kiste.
Ich wusste gleich: Wenn dieser Coup gelingen soll, wird das ein Riesenberg Arbeit. Und davor bin ich zurückgeschreckt, d. h. ich hatte die Idee eigentlich schon fast begraben. Bei einem Besuch in Süddeutschland erzählte ich aber einem Freund davon, Steffen Schlichter. Und der war sogleich Feuer und Flamme. Steffen ist dann in die Organisation eingestiegen und hat mich noch mal so richtig motiviert. Weil wir früher schon Sachen gemeinsam veranstaltet haben, wussten wir, dass es eine gute Zusammenarbeit wird.
Eine tolle Unterstützung lieferte auch Patrick Hackermüller, der im permanenten Dialog mit uns die Website gestaltet hat. Diese virtuelle Entsprechung des Museums ist für das Projekt sehr wichtig. Aber am wichtigsten waren natürlich die 48 Künstler, die wir für eine Teilnahme gewinnen konnten. Das sind richtig gute Leute!
Matthias: Wie schätzt Du die Lage ein? Coup gelungen? Mobilisieren die Bürger gegen die Stadtplaner?
Matthias: Ja. Man kann schon jetzt sagen, dass die Ausstellung ein toller Erfolg ist, obwohl ihre Wirkung noch längst nicht zu Ende ist und die Zukunft vielleicht noch manche Überraschung bereithält. In Bochum ist es Stadtgespräch. Und zwar nicht nur unter Leuten, die zum eigentlichen Kunstpublikum zählen.
Die Zeitungen haben mehrfach in riesigen Artikeln – und zwar nicht nur im Kulturteil, sondern auch auf der ersten Seite des Lokalteils – darüber berichtet. Im Lokalradio war es stündlich in den Nachrichten. Es beschäftigt die Phantasie der Menschen hier wirklich sehr. Dabei kann es gar nicht Maßstab des Erfolgs sein, ob der Zaun nun demontiert oder wenigstens das Tor geöffnet wird. Das wäre natürlich toll. Aber für die Stadt wäre damit ein solches Eingeständnis eines Fehlverhaltens verbunden, dass sie sich dazu nur ganz schwer durchringen wird.
Als mir seitens des Leiters des Liegenschaftsamtes Anfang des Jahres die Entscheidung der Stadt mitgeteilt wurde, dass ich auf dem Gelände keine Künstlergespräche durchführen dürfe, habe ich diese Aussage natürlich zur Kenntnis genommen. Aber ich habe auch geantwortet, dass ich «im Rahmen meiner Möglichkeit weiter daran arbeiten werde, das Gelände im öffentlichen Bewusstsein zu erhalten». Und ich habe bemerkt, dass das den Mann sogleich nervös machte. Verwaltungsdenken ist einfach: Leute schreiben Anträge – und die Verwaltung lehnt ab. Damit hat sich die Sache für sie erledigt. Künstler arbeiten anders. Ihr «Rahmen der Möglichkeiten» ist für eine Verwaltung ganz unberechenbar. Das macht die nervös.
Und hinter der Errichtung des Zauns steckt ja nicht nur der Wunsch, Leute am Betreten des Geländes zu hindern. Sondern dieses sollte gänzlich aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden. Dies ist schon mal grandios gescheitert.
Aber es geht ja gar nicht nur um dieses konkrete Brach-Gelände oder um Bochum. Nur ein einziger weiterer teilnehmender Künstler kommt aus der Stadt. Die übrigen 47 Künstler kommen aus ganz Deutschland und anderen Ländern. Bochumer Lokalscheiß interessiert die überhaupt nicht. Nur weil sie in der Ausstellung etwas Exemplarisches gesehen haben, sind die dabei. Dass es gelungen ist, in dem Konkreten das Allgemeine sichtbar zu machen – das ist meiner Ansicht nach der eigentliche Erfolg der Ausstellung!
Matthias: Hast Du, habt Ihr vor, dieses Museum über die Künstlergespräche hinaus zu etablieren? Habt ihr hierfür vielleicht auch Stützen seitens des Museums Bochum?
Matthias: Unser Museum wurde mit der Ausstellung «Kunstwerke-Werfen / Informelle Inbesitznahme des Situativen Brachland Museums» in die Welt gesetzt. Für die Dauer der Ausstellung befindet es sich auf dem besagten Brachgelände in Bochum. Für die Zukunft können wir uns aber durchaus auch vorstellen, an anderen Orten in Deutschland (oder anderen Ländern) unter diesem Begriff aktiv zu werden. Das Situative Brachland Museum ist also ein nomadisierendes Museum.
Ob es in Bochum nach dem Ende der Ausstellung (2. Oktober 2011) eine Fortsetzung gibt, wird sich zeigen. Ich werde in den nächsten Tagen mein Angebot an die Stadt erneuern, auf dem Gelände Künstlergespräche und dergleichen durchzuführen. Mit dem Kunstwerke-Werfen habe ich ja jetzt unter Beweis gestellt, auf welch hohem Niveau die Veranstaltungen angesiedelt wären. Ich bin aber skeptisch, ob die Verwaltung diesmal zu einer anderen Entscheidung kommt.
Ob es Unterstützung seitens des Kunstmuseum Bochums geben wird, weiß ich nicht. Immerhin haben der Leiter und sein Stellvertreter dem Situativen Brachland Museum einen Besuch abgestattet und sich dabei auch angetan gezeigt. Vor ein paar Jahren, als im Kunstmuseum für sechs Wochen eine temporäre Filiale meiner Pommesbude «Der Mythos-Grill» installiert war, habe ich dort mit geladenen Gästen wöchentlich Veranstaltungen der Mythos-Grill-eigenen Theoriereihe «Reflektieren & Frittieren» durchgeführt. Und für die Ausstellung «Und es bewegt sich doch…» habe ich den Kunst-im-öffentlichen-Raum Teil «Und es bewegt sich doch – extended» kuratiert. Insofern existiert da vielleicht zumindest ein Bewusstsein, dass ein solches von mir betriebenes Projekt eine Bereicherung für die Stadt sein könnte.
Matthias: Interessant ist überdies der Nebeneffekt mit dem Diebstahl der Werke inklusive anschließender Rückführung. Kannst Du kurz beschreiben, was da passiert ist?
Matthias: Das Situative Brachland Museum und die Ausstellung Kunstwerke-Werfen sind einem permanenten Prozess unterworfen. Viele Kunstwerke verharren nicht an Ort und Stelle, sondern wechseln auf dem Gelände die Position. Das ist erstaunlich. Und u. a. macht dies die Sache auch nach dem eigentlichen Werfen – das ja zunächst der spektakulärste Teil der Ausstellung war – weiterhin spannend.
Nun hat sich auch schon zum zweiten Mal ein größerer Diebstahl ereignet. Jemand hat versucht die Ausstellung komplett abzuräumen. Beim ersten Mal gab es durch einen glücklichen Zufall ein Foto von dem Täter. Nachdem die lokalen Zeitungen berichtet hatten, erstattete dieser reumütig die Objekte zurück.
Offenbar handelte es sich bei ihm um einen notorischen Aufräumer. In seinen Augen produziert die Welt permanent Unordnung. Seine Bestimmung sieht er darin, Ordnung zu schaffen. Nun handelt es sich bei dem Situativen Brachland Museum um ein sehr unordentliches Museum – das ist Programm. Deshalb sah sich dieser Mann sogar herausgefordert, illegal auf das Gelände vorzudringen, um diesen Zustand zu beseitigen. Wir haben uns aber, nachdem er die Werke zurückerstattet hatte, die Hand gegeben, und die Sache war erledigt.
Für uns war der Vorfall sogar in gewisser Weise eine glückliche Fügung. Er versetzte uns in die Lage, die entwendeten Kunstwerke bei der 1. Museumsführung eine Woche nach der Ausstellungseröffnung erneut zu werfen.
Beim eigentlichen Werfen war ja auch die Arbeit von Matthias Beckmann nicht kaputt gegangen. Dabei war das Konzept. Matthias Beckmann hatte einen Teller mit einer wunderschönen Zeichnung verziert und der sollte beim Aufprall natürlich zerschellen – als Beitrag zu einer zukünftigen Archäologie. Ich hatte sogar noch versucht, die Arbeit von Andreas Bär auf den Teller zu schmeißen, um diesen doch noch kaputt zu kriegen. Aber ich traf nicht und fragte deshalb verzweifelt das Publikum: «Wie sag ich’s bloß dem Beckmann?» Und jetzt war der Teller plötzlich wieder in unsere Händen und konnte erneut geworfen werden. Ein großes Glück! Und wie es sich gehört, zerschellte er diesmal sehr schön in viele Scherben.
Ob wir noch mal solches Glück jetzt mit dem zweiten Diebstahl haben, ist aber zweifelhaft. Jemand hat sich sehr lange auf dem Gelände aufgehalten, um möglichst alle Werke abzuräumen. Ein paar Arbeiten liegen allerdings so versteckt, dass sie seiner Aufmerksamkeit entgangen sind. Auch ist das Gelände ja sehr groß. Aber sogar das überdimensionale Hirn von Christine Biehler, für dessen Abtransport eigentlich zwei Personen nötig sind, wurde entwendet.
Ich kann mir nur zwei Gründe für diesen großangelegten Diebstahl vorstellen: Entweder wollte sich jemand bereichern. Oder jemand war neidisch auf den Erfolg der Ausstellung, und wollte sie deshalb zerstören. Dabei ist das völlig unmöglich. Die Ausstellung an sich ist nämlich unzerstörbar.
Matthias: Wenn ich korrekt informiert bin, hast Du Strafanzeige gestellt. Aber was ist der rechtliche Status der Arbeiten, wenn sie illegal auf städtischem Grund platziert werden, sorry, auf städtischen Boden geworfen werden?
Matthias: Der Zaun markiert ja nicht nur eine Grenze, die in einem rein physischen Sinne wirksam wird, indem sie Körper am Betreten des Geländes hindert. Sondern mit dem Zaun einher geht ja auch eine eigentlich immaterielle Regelgrenze. Innerhalb des Zauns gelten andere Regeln als außerhalb. Privatgelände, öffentlicher Raum, Exklusion unerwünschter Bevölkerungsgruppen, Eigentum, Sachbeschädigung, Verkehrssicherheit – das impliziert auch viele rechtliche Fragen.
Es war von Anfang an unsere Absicht, auch diese rechtlichen Dimension mittels unseres Projekts ein Stück weit durchzudeklinieren..
Dabei ist die Sache teilweise sehr kompliziert. Ein auf einem Privatgelände widerrechtlich abgestelltes Auto geht ja z. B. auch nicht automatisch in den Besitz des Grundstückseigentümers über. Dies ist z. B. einer der Gründe warum wir auch immer darauf gedrungen haben, dass die Kunstwerke nicht «weggeworfen» wurden und dass die Werke eigens für diese Ausstellung konzipiert wurden. Schon in der Einladung an die Künstler stand: «Mit Kunstwerke-Werfen ist keinesfalls eine Entsorgung alter Arbeiten (im Sinne von Wegwerfen) gemeint. Wir planen eine sehr gute Ausstellung, deren Exponate mit den speziellen Gegebenheiten sinnfällig umgehen.»
Außerdem gibt es ja auch noch das Grundrecht, das nicht nur die Produktion von Kunst, sondern auch ihre Verbreitung ausdrücklich schützt. Natürlich gibt es hier eventuell einen Interessenkonflikt mit Eigentumsfragen, die aber zumindest nicht eindeutig zu entscheiden sind. Denn ich habe ja sogar angeboten, die Werke nach Beendigung der Ausstellung wieder einzusammeln – dafür muss man mir nur Zutritt auf das Grundstück gewähren, denn illegal will ich das natürlich nicht tun. Welche Einschränkung erfährt also der Eigentümer auf einem von ihm ohnehin nicht genutzten Grund?
Hinzu kommt noch, wie gesagt, dass das Gelände in der Kulturhauptstadt Ruhr2010 als so genanntes «Kreativquartier» ausgewiesen war, obwohl dort außer dem Zaun und einem Lidl nichts weiter geschehen ist (aber ohne dass jemals jemand gesagt hätte: «Der Kaiser ist ja nackt!») Die Kreativquartiere galten im Rahmen der Kulturhauptstadt sogar als so genannte «Leuchtturmprojekte».
Es gibt aber in dem Zusammenhang Äußerungen seitens der Stadt, z. B. die von Frau Behn von der Wirtschaftsförderung, die alle Kreativen ausdrücklich aufgefordert hatte, sich «aktiv an der Gestaltung dieses Grundstücks zu beteiligen». Natürlich war das nur einfach so daher gesagt, aber warum sich nicht trotzdem auf so eine Aussage mal berufen?
Ende September hat mir noch ein Ratsherr geschrieben, dass es ein großes Entgegenkommen seitens der Verwaltung gewesen sei, diese Sache nicht «bürokratisch zu betrachten». Womit er vermutlich meinte, «nicht Anzeige zu erstatten». Aber ich glaube, die Verwaltung hat nicht nur den gewaltigen Imageschaden gescheut, sondern auch diese rechtlichen Schwierigkeiten klar erkannt.
Wenn hingegen die Stadt die Ausstellung entfernt und zur Müllkippe gebracht hätte, hätten wir natürlich die Stadt deswegen verklagt. Und ich bin mir sehr sicher, dass wir Erfolg gehabt hätten, sofern wir hätten nachweisen können, das diese Tat in voller Absicht, d. h. im Wissen um den Kunstcharakter der Exponate erfolgte. Etwas schwieriger wäre die Sache allerdings gewesen, wenn die Werke zwar abgeräumt, aber anschließend eingelagert worden wären. Meine Meinung ist ja, dass die komplette Ausstellung auch eine Art Gesamtkunstwerk darstellt, das durch eine solche Behandlung zerstört worden wäre. Also ein Verstoß gegen die Kunstfreiheit in Tateinheit mit einer «Sachbeschädigung». Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob die Richter mir in dieser Argumentation – in Abwägung mit den Eigentumsrechten des Besitzers – gefolgt wären. Es wäre auf jeden Fall hochspannend geworden!
Jetzt haben wir Strafanzeige gegen unbekannt gestellt. Es geht natürlich absolut nicht darum, irgendeinen armen Flaschensammler zu kriminalisieren, der eventuell das Gelände nach etwas Verwertbarem durchstreifte. Aber es wurde ja versucht, sämtlicher Kunstwerke habhaft zu werden (und da sind etliche drunter, die aus der Perspektive eines Flaschensammlers absolut keinen Wert darstellen). Diese Art des Diebstahls zeigt meiner Ansicht nach klar und deutlich, dass dem Vorgang eine ganz andere Motivation zugrunde lag. Entweder wollte jemand die Ausstellung aus Neid zerstören. Oder er spekuliert darauf, die Werke später auf dem Kunstmarkt zu verscherbeln. Und das will ich natürlich auf jeden Fall verhindern. Die Künstler (mich eingeschlossen), obwohl alle Profis, haben bei diesem No-Budget-Projekt ja alle unentgeltlich gearbeitet – eben weil sie das Konzept so sehr überzeugt hatte. Sie haben Geld, Zeit und Ideenkraft da rein gesteckt, um einen Dienst an der Gesellschaft zu leisten. Warum sollte nun jemand anderes damit Reibach machen?
Und ich unterstreiche durch eine solche Strafanzeige ja auch eines ganz deutlich: Dass die Künstler für dieses sehr spezielle Projekt unentgeltlich gearbeitet haben, heißt absolut nicht, dass ihre Werke wertlos sind.
Matthias: Lässt man das alles Revue passieren, semantisiert und kontextualisiert sich das Situative Brachland Museum zusehends. Mit einem Augenzwinkern aus der Vogelperspektive: Droht ein Bedeutungschaos oder haben wir es hier mit einer interessanten neuen Ästhetik auch des Künstlerkollektivs als (aktivistischer) Kurator zutun?
Matthias: Als Vorbild für kuratorische Praxis taugt die Ausstellung «Kunstwerke-Werfen» ja nur sehr bedingt. Dafür ist sie zu speziell. Aber gerade dadurch, dass so viele Konstituenten des Ausstellung-Machens einer Umdeutung unterworfen sind – die Stellung des Rezipienten zum Kunstwerk, der institutionelle Rahmen, der Ausstellungsaufbau usw. – kann das Projekt u. a. auch eine Warte bilden, von der sich ein distanzierter (und hoffentlich auch erfrischender) Blick auf die Rituale des Kunstbetriebs gewinnen lässt. Wenn man mitten drin steckt, hält man dessen Regeln ja leicht für objektiv und somit unverrückbar. Ich persönlich bin mit der Ausstellung an die Grenze dessen gegangen, was ich organisatorisch so nebenher noch bewältigen kann (und will!). In erster Linie sehe ich mich ja als Künstler und strebe ein Dasein als Kurator überhaupt nicht an. Allerdings gehören zu meinem künstlerischen Selbstverständnis auch immerzu Grenzgänge – nicht nur, was die Gattungsgrenzen anbelangt, sondern auch zu anderen Betriebssystemen, wie z. B. Theorie oder Organisation. Aus diesem Grunde nenne ich das, was ich treibe, auch «Kontext-Hopping».
Seit 1990, als ich mit der künstlerischen Tätigkeit begann, habe ich insofern auch immer mal wieder organisatorisch gearbeitet, 1998 sogar gemeinsam mit An Seebach im Künstlerhaus Dortmund eine Symposium veranstaltet zum Thema «Künstler als Organisatoren / inwieweit können organisatorische Prozesse als Gestaltungsaufgaben und insofern als Material im künstlerischen Sinne verstanden werden?»
Diese Form von kuratorischer Arbeit sowie die begleitenden Reflexionen sind für mich sehr wichtig – und zwar nicht nur was den Erkenntnisgewinn anbelangt. Auf meine Weise habe ich so an einem Netzwerk mitgestrickt (in dessen Koordinatensystem jetzt auch das Situative Brachland Museum eingerückt ist). Es ist ein sehr loses und sehr offenes Netzwerk, ein lockerer Verbund von Artist-Run-Spaces, an ähnlichen Dingen interessierten Kollegen, selbstorganisierten Projekten etc. Für meine eigene Entwicklung war dieses Netzwerk auch als Vertriebsweg für meine künstlerischen Hervorbringungen wichtig, d. h. so konnte ich vielen meiner Ideen eine Öffentlichkeit verschaffen. Das Netzwerk bietet eine echte Alternative (oder doch zumindest wichtige Ergänzung) zum herkömmlichen Kunstbetrieb. Es ist vor allem deshalb so besonders wertvoll, weil sich in ihm freier operieren lässt.
Matthias: Jetzt haben wir mit Blick auf die Bochumer Imdahl-Schule das Pferd von hinten aufgezäumt. Eigentlich hieß es da ja immer: erst schauen, dann der ganze Rest. Du hast mich an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass es einerseits ja die Werke gibt, andererseits diese speziellen Rezipientenerfahrungen. Vielleicht kannst Du Dich zu beiden Aspekten äußern? Fangen wir mit den Künstlern an. Welche Rolle spielt das einzelne Werk?
Matthias: Der Wert der Ausstellung «Kunstwerke-Werfen» liegt ja vor allem in der Qualität der einzelnen Arbeiten. Die Künstler wussten, dass es keinesfalls um die Entsorgung alter, als misslungen empfundener Arbeiten geht (im Sinne von Wegwerfen). Der überwiegende Teil der Arbeiten entstand eigens für diese Ausstellung. Und die wenigen bereits vorher existierenden Arbeiten – wie die «County-Jail»-Performance-Fotos von Roi Vaara oder die Ugar-Zigarre von Georg Winter – fanden ja gerade deshalb Eingang in die Ausstellung, weil sie wie geschaffen dafür waren.
Dabei hat mich die Vielfalt der künstlerischen Lösungen selber überrascht. Formal und inhaltlich.
Eine Anzahl von Arbeiten setzt sich mit dem Phänomen des Werfens ganz direkt auseinander, bzw. mit der sehr dynamischen Zustandsform der Skulptur während ihres Transits durch die Luft. Es gab Diskus-, Speer-, Bola- und Bumerang-Skulpturen. Wobei das natürlich jeweils nur ein Aspekt der jeweiligen Arbeit ist. Olaf Probsts ZONENOZ-Bumerang z. B. ist zugleich auch eine Textarbeit, die der Umcodierung des Geländes dient. Die Bola mit eingearbeitetem Karl-May-Band von Jürgen Kierspel entstand aus seiner persönlichen Erfahrung, wie schwer es fällt, sich von manchen Kindheitsdingen zu trennen.
Die Auseinandersetzung mit dem Thema «Wurf» zeigt sich bei anderen Arbeiten eher im Moment des Aufpralls. Indem sie nämlich – in der Art eines Würfels oder einer Münze – damit spielen, welche Seite oben zu liegen kommt, womit dann unterschiedliche Bedeutungen evoziert werden. Ferhat Özgürs Schild zeigt das besonders anschaulich. Auf einer Seite stand: «To throw any art work over this fence is allowed», während auf der anderen Seite die gegenteilige Botschaft prangte: «To throw any art work over this fence is not allowed».
Einige Arbeiten sind sehr ephemer: Gilbert Geister, der einen Modellhubschrauber mittels Fernsteuerung über den Zaun lenkte, um rotes Farbpigment über dem Gelände abzuwerfen, erschuf auf diese Weise eine Momentskulptur in Form einer roten Staubwolke. Kathrin Sohn brachte eine Vogelform am Zaun an, die ihren Schatten auf das Gelände wirft. Nol Hennissen schuf riesige Eisringe, die nur mit Mühe über den Zaun gehievt werden konnten, um dort dann zu schmelzen und im Boden zu versickern. Einige Arbeiten – wie die von Yves Chaudouet und Ingold Airlines – nehmen Bezug auf auf die Natur der Brache, andere – wie die Arbeit von Birgit Anna Schumacher – lassen sich eher von den politischen Hintergründen inspirieren. In sehr besonderer Weise widmet sich letzterem auch die Arbeit von Roel van Timmeren, der mit seinem «Spritzturm mit Wippe» einen ganz wichtigen Beitrag zu der Ausstellung liefert. Denn die auf dem Gelände gefundenen Spritzen waren ja das Hauptargument für die Absperrung.
Es gibt eine ganze Reihe von Arbeiten, die einen romantischen Aspekt haben. Und in der Tat lässt sich ja von der Brache als ehemals bebaute Fläche, die langsam wieder von der Wildnis eingenommen wird, eine Brücke zur romantischen Ruinenästhetik schlagen. Christian Hasuchas «Joseph-Freiherr-von-Eichendorff-Gedenkpfad» bietet hierfür ein Beispiel.
Dann gibt es Beiträge – wie die von Wolfgang Müller, Ella Ziegler und Jürgen Raap – die den Akt des Werfen auch diskursiv begleiten. Es gibt rein imaginäre Arbeiten, wie das unsichtbare Feuerwerk von Beni, aber auch so massive Setzungen, wie das riesige, fluoreszierende Hirn von Christine Biehler.
Damit ist nur eine kleine Auswahl der Arbeiten angerissen, die in ihrer Gesamtheit das Hochspannende dieser Ausstellung ausmachen. Ich kann nur jeden auffordern, sich da mal umzutun. Auf der Homepage ist jedes Werk gut dokumentiert. Das war uns sehr wichtig – jeder Arbeit einen Wahrnehmungsraum zu bieten, in dem sie nachvollzogen werden kann, damit das Ganze nicht so ein aufgeblasenes Kuratorending wird, wo das Gesamtkonzept alles ist und die einzelne Arbeit untergeht. Vor dem Werfen wurden die Arbeiten auch gut sichtbar für die Besucher auf weißen Laken präsentiert. Und vor jedem Wurf habe ich etwas zu jeder einzelnen Arbeit gesagt – wie natürlich auch bei den Führungen, die wöchentlich stattfanden.
Matthias: Das Setting und die Arbeiten setzen ein grundsätzlich anderes Rezeptionsverhalten als im gebauten Museum oder der Galerie voraus. Vielleicht kannst Du zum Abschluss noch von Besuchern berichten, die mit Dir darüber gesprochen haben…
Matthias: Die Ausstellung funktioniert ja in gewisser Hinsicht analog zum Gelände. Diesem wurde seitens des Baudezernenten jeglicher Freizeitwert abgesprochen – was dann einer der Gründe für die Einzäunung war. Und ich glaube, der Mann sieht das tatsächlich so.
Ich habe auf dem Gelände aber zum Beispiel schon Mauereidechsen entdeckt. Auch mit der Ödlandschrecke habe ich mich dort zum ersten Mal befasst. Und ich beschäftige mich ja auch mit der Botanik auf solchen Ruderalflächen, weil mich das Widerständige dieser Pflanzen interessiert. Grad hat mir eine Mitarbeiterin der Botanischen Station Westliches Ruhrgebiet noch bestätigt, «dass sich auf dem Gelände ganz vortrefflich Pionierpflanzen in verschiedenen Sukzessionsstadien beobachten lassen». Offenbar haben diese Botanikerin und ich also einen sehr anderen Blick auf das Gelände als der Baudezernent.
Und beim Brachland-Museum geht es ja auch um eine Art «Schule des Sehens».
Zu leicht beschränkt man sich vielleicht – wenn man über das Projekt nachdenkt – allein auf den Akt des Werfens, der sicher das Spektakuläre dieser Ausstellung ist. Die Ausstellung selber war für mich aber genauso wichtig wie dieser ja mehr performative Akt ihrer Erzeugung.
Kunst in einer Weise zu präsentieren, dass sie sich den Blicken mehr oder minder entzieht, finde ich als Modell für eine Ausstellung wirklich radikal. Und auch extrem spannend! Darin unterscheidet sich Kunstwerke-Werfen wirklich von herkömmlichen Ausstellungen. Den Betrachtern, die ja sonst eher auf optische Sensationen getrimmt werden, bleibt nur der distanzierte Blick durch einen Zaun auf Dinge, die fast gänzlich im Verborgenen sind bzw. zum Teil auch nur noch als Spuren vorhanden oder gar gänzlich verschwunden sind, d. h. es handelt sich um eine Ausstellung, die fast vollständig imaginiert werden muss.
Ich hab sowieso eine Vorliebe für Verstecke und die Randbereiche der Wahrnehmung!
Und diese «Schule des Sehens» hat ja tatsächlich funktioniert, z. B. bei den wöchentlichen Museumsführungen, die ich angeboten habe. Ich habe nur positive Rückmeldungen bekommen. Das war echt eine schöne Erfahrung.
Eine weitere Besonderheit der Ausstellung war natürlich die Dynamik, die der Präsentation jedes einzelnen Dinges auf diesem Gelände innewohnte. In anderen Museen ist das ja extrem starr: das Exponat ist in der Präsentation geradezu unverrückbar auf einen Ort festgelegt. Nicht so im Brachland-Museum. Viele Ausstellungsgegenstände haben im Verlauf der Ausstellung – für mich selber immer wieder überraschend – mehrmals die Position auf dem Gelände gewechselt. Da war richtig Leben drin. Im Grunde gehören ja selbst die Diebstähle zu dieser Dynamik.
Aber ich denke vor allem auch an sehr besondere Begebenheiten. Z. B. an die Arbeit von Mark Formanek, der das Gelände mit Topfpflanzen signiert hat. Margerite, Aster, Rose und Kirschlorbeer. Die Anfangsbuchstaben bilden seinen Namen: Mark. Zugleich stellte diese Signatur natürlich auch einen Aufprall der domestizierten Topfpflanzen-Natur in der rauen Brachland-Botanik dar. Und jetzt kommen die Kaninchen ins Spiel. Die haben sich gefreut. Die haben die Topfpflanzen ganz schnell gefressen, bis nur noch die Wurzelballen übrig waren – was ja auch eine Art bildhauerische Bearbeitung ist.
Oder die Arbeit von Matthias Beckmann – der bemalte Teller, der entgegen der Absicht des Künstlers beim ersten Wurf nicht zerschellt ist, dann geklaut, dann zurück gegeben wurde und somit erneut geworfen werden konnte. Und nun endlich zerbrach! Diese wunderbare Geschichte ist doch Teil des Bedeutungsgehaltes dieser Arbeit!
Etwas ganz Besonderes hat sich auch bei der Arbeit der Duos Stefan Köperl und Sylvia Winkler in Zusammenspiel mit dem Werk von Christian Hasucha zugetragen. Erstere kommen aus Stuttgart und beim Thema Zaun ist ihnen eine Bauzaunstürmung beim Bahnhofsneubau in Stuttgart eingefallen. Dies thematisieren sie mit ihrer Arbeit – einem beklebtem Holzklotz.
Der Holzklotz war plötzlich verschwunden, und dann hab ich ihn direkt am Zaun wieder entdeckt. Darunter geschoben war eine der flachen runden Holzscheiben von Christan Hasuchas «Eichendorf Gedenkpfad». Zuerst dachte ich, jemand hätte die Werke zum späteren Abtransport schon mal in Zaunnähe deponiert. Erst später bin ich dann auf eine andere Lösung gekommen. Die beiden Werke bildeten an genau dieser Stelle eine Tritthilfe, um den Zaun zu übersteigen. Wenn man nämlich genauer hinschaut stehen überall am Zaun – innen wie außen – verteilt so komische Gegenstände. Die stehen da, weil Leute darauf Klettern, um so über den Zaun zu kommen.
Im vorliegenden Fall ist das natürlich eine sensationelle Transformation: zwei der Kunstwerke aus der Ausstellung wurden offenbar von irgendwem gezielt zu einem Gebilde verbaut, das ganz konkret der Überwindung des Zauns nutzt! Hasuchas Platte dient dabei vor allem dazu, den Grund eben zu machen. Dann wackelt der Klotz nicht beim Draufsteigen. Dieses neu entstandene Gebilde hat natürlich selber etwas extrem Skulpturales. Und zugleich muss man ja wohl auch von einem Sockel sprechen – der Sockel für den unbekannten Zaun-Übersteiger! Das ist doch wirklich wunderbar.