Performance vor Gericht

Über Mutationen des Werkbegriffs

Der Streit um 19 Dokumentarfotografien von Manfred Tischer zur Aktion „Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet“1 von Joseph Beuys aus dem Jahr 1964 ist vielleicht von historischer Tragweite, offenbart er doch ein signifikantes Problem, welches der Gattung Performance, solange – und daran ändert sich wahrscheinlich erst einmal nichts – sie im Kontext der bildenden Kunst verhandelt wird bzw. ihr inhärent bleibt2, eingeschrieben ist: Derartig transitorische Künste können bis heute scheinbar nicht adäquat verstanden werden. Denn die Grenzen des Werkbegriffs verharren in Bezug auf zeitbasierte Kunstäußerungen trotz mittlerweile Jahrzehnte währender Performanceforschung im Diffusen, zumal die Reflexion über bildende Kunst in der Regel an einem starren, dem Objekt verpflichteten Werkbegriff hängt.

Eigentlich sollte es nicht weiter verwundern, wenn eine der Qualitäten der Kunst eben das Unbestimmbare, Mehrdeutige ist, spiegelt sich dies doch in den zahllosen Eigenschaftszuschreibungen an sie durch die Rezeption des 20. Jahrhunderts generell. Das Credo von der niemals abzuschließenden Kunsterfahrung gilt bekanntermaßen für jedes Artefakt. Allerdings ist hier die Rezeption bzw. ihr Vorgang das performante Tun. Eine Plastik verändert sich für die Dauer eines herkömmlichen Museumsbesuchs wohl kaum. Dennoch ist es bisweilen grotesk zu beobachten, wie sich im Alltag kategoriale Verzerrungen ganz praktischer Art hinsichtlich dieses Werkbegriffs ergeben. Die nämlich sind ganz handgreiflich offenkundig beispielsweise im Gerichtssaal. Dann also, wenn es um die vermeintlichen Grenzfälle geht, also um Performances. Tischers fotografisches Werk gilt laut Urteil als „Umarbeitung“ bzw. „Bearbeitung“ der Beuysschen Aktion, von der es keine filmischen Dokumente gibt, obschon sie in einem Fernsehstudio im Rahmen der Livesendung „Drehscheibe“ aufgezeichnet worden war.3 Unabhängig von den somit kastrierten Urheberrechten des Fotografen, dem das Gericht offensichtlich keine „Werkhöhe“ bescheinigen wollte, und der Inthronisierung einer Wertgleichheit von Dokumentation und Kunstwerk, stellt sich massiv die Frage nach dem Stellenwert dieses kategorialen Quantensprungs. Ihre denkbare Antwort leitet zu einer Möglichkeit der Beantwortung der Frage, wie Performance kategorial zu behandeln ist. Denn allein durch kunstexterne Medialität – was gelinde gesagt ex negativo eine systemische Rochade oder, mit anderen Worten, eine Vertauschung der jeweiligen Dispositive in unterschiedlichen Diskursen darstellt – kehrt sich im Ergebnis die Kausalität bisheriger kunsthistorischer Forschung um – also nicht durch Ausbildung des Akteurs, Ausstellung, Kontext, Zuschreibung wird etwas als Kunst beglaubigt, sondern durch ein Gerichtsurteil, das keine weitere Auslegung zulässt, außer in der nächst höheren Instanz – tertium non datur.

Dass also mittlerweile Richter und nicht allein die Urheber und Fachleute darüber urteilen, wo die Grenzen zwischen Werk und Dokumentation zu ziehen sind, erscheint auf den ersten Blick als empörenswert, kann aber qualitativ zu einer Klärung des Phänomens beitragen – wenn auch auf mehr oder minder zweifelhafte Art und Weise. Sicher werden sich weder Kritik noch Forschung an das Diktat des Rechtsspruchs halten. Seine Folgen sind dennoch nicht absehbar. Existierten bislang, außer in wenigen, meist an der künstlerischen „Hardware“ stattfindenden Berührungen zwischen Recht und Kunst, kaum Überschneidungen und diente kunsthistorischer Sachverstand beispielsweise der Aufdeckung von Fälschungsskandalen, gab es dennoch, abgesehen von dem zu erfüllenden Charakteristikum der „Werkhöhe“ (bzw. „Gestaltungshöhe“) im Urheberrecht kaum bis gar keine theoretische Affinität zwischen den Systemen. Gewichtigere Interventionen treten genau dann auf, wenn der Künstlerkörper im Werk zur Disposition steht und zugleich das Künstlerische, entwertet durch das Handeln der Exekutive, infrage gestellt wurde. Ein Beispiel ist FLATZ‘ Performance „zum 3. jahrestag“, 1975, als sich der Künstler in Erinnerung an einen von ihm verursachten schweren Verkehrsunfall mit einer Schautafel drei Stunden lang an den Rand einer Landstraße stellte und ihn als Folge zwei Polizisten in die Psychiatrie zwangseinwiesen.

Nun aber drängt solche Faktizität zu einer endgültigen Sachantwort. Im Falle von Beuys‘ Aktion gibt es keine Übernahme der Fotografien in spätere Werke, etwa in seine „Ablagen“. Kann man also die bloße Anwesenheit des Fotografen in Ausübung seiner Tätigkeit als Werkbestandteil interpretieren? Gerichtlich lässt sich das kaum klären, denn Joseph Beuys kann man nicht mehr befragen. In diesem speziellen Fall ist weiters eine solche Inkorporation nicht dokumentiert. Überdies gilt dann längst noch nicht, dass man die Produkte, also die Fotografien, als in die Zukunft hinein verlängerten Arm des Werks zu deuten hätte, und materialiter waren die Abzüge schließlich nicht anwesend, sondern nur der Streifen belichteten bzw. unbelichteten Zelluloids in der Kamera – das sind nicht einmal Relikte. Das aus kunsthistorischer Sicht gravierende Fehlurteil des Gerichts zeitigt also einen Deutungsnotstand für die Präzisierung der Frage nach dem Status des Verhältnisses zwischen Performance und den Medien. Es schärft allmählich den Blick für die enge Begrenztheit des Werkbegriffs im Kontext ephemerer Kunst.

Neben dieser Interaktion zwischen Kunst- und Rechtssystem über das Medium Fotografie verweisen Performances mit großem Körpereinsatz, für die besonders FLATZ seit den siebziger Jahren steht, auf einen anderen Einbruch des „Alltags“, besonders heutigentags: Das Internet erlaubt bekanntermaßen eine erheblich weiter gestreute, publikumswirksame Partizipation der Medienkonsumenten an der medialen Öffentlichkeit, als dies noch zu Zeiten des guten alten Leserbriefs denkbar war. Reaktionen etwa auf die breite Berichterstattung zur Arbeit „schuldig – nicht schuldig“ von FLATZ vom 15. Januar 2010 im Kunstraum Innsbruck, die in ihrer Anlage, Deutung und Bedeutung eine bedrückend minimalistische Verdichtung und „Behandlung“ der Kardinalneurose des christlichen Abendlandes, von bekanntermaßen der Relation von Schuld und Sühne war, offenbaren ein nachgerade sturmartiges Aussetzen der Bereitschaft, sich auf den eigentlichen Sachverhalt einzulassen. Nämlich gerade dann, wenn die Kommentatoren eben nicht Bestandteil gewesen sind, sondern sich vom Schreibtischstuhl aus anhand von Berichten erkühnten, Urteile über den Kunstwert der Aktion zu fällen.4 Solch körperbasierten Kunstäußerungen haftet in der stets beschränkten Wiedergabe eine verklärende Aura an, hinter der die eigentlichen Gehalte verschwinden und allein nur die oberflächliche Faktizität von beispielsweise Nacktheit oder selbst zugefügter Gewalt als Trigger von Scheindeutungen fungiert. Das therapeutische oder gar kathartische Moment, also die mögliche Selbsterfahrung durch Kunsterfahrung, steht somit außerhalb der Reichweite der selbsternannten Deuter. Mit Blick auf das „Original“ ist jedes Setting einmalig und imgrunde nicht repetierbar, zumal die Publikumsreaktionen wie etwa in „schuldig – nicht schuldig“ schlichtweg Werkbestandteil sind. Kunsterfahrung hingegen findet exakt nur während der Aufführung statt. Wer nicht dabei gewesen ist, neigt dazu, verfälschend, verkürzend, polemisierend und diffamierend zu schreiben.

In anderen Künsten sind diese Fragestellungen längst nicht mehr der Rede wert. Aufführung, Wiederaufführung (oder neuerdings Re-Enactments) – all dies sind Kategorien für Historienspiel, Musik und Theater (ihre Dokumentation könnte jedoch gerichtliche Folgen nach sich ziehen, etwa wenn das Foto eines Bühnenstars dem Veranstalter nicht genehm sein sollte und er die Veröffentlichung auf Grundlage des Tischer-Urteils juristisch untersagen lässt), wobei allerdings mit der Notenschrift und der textuellen Grundlage für ein Theaterstück andere Gesetze als für die Performance gelten. Improvisationen etwa sowohl in Jazz, Tanz, Theater sind ihren jeweiligen Darbietungsformen eingeschrieben und schauen auf eine Jahrhunderte währende Tradition – etwa die Kadenz im Solokonzert – zurück.5 Die bildende Kunst indes urteilt nach wie vor mit Blick auf einen statischen Werkbegriff und formiert demgemäß ihre Begrifflichkeiten, in denen statische Bildbegriffe dominieren. Was dazu führt, dass Differenzen wie zwischen Fotografien und der eigentlichen Performance zu verschwinden drohen bzw. ihre Sinngehalte im medialen Gezwitscher der absenten Kommentatoren untergehen.

Diese Zeilen sind kein Aufruf zur Zensur. Vielmehr muss man sich jener Seiteneffekte bewusst sein, stärken sie doch zugleich die Möglichkeit zur Fokussierung auf das Werkhafte, das im Prozess in Anwesenheit erst hinreichend, wenn auch subjektiv erschlossen werden kann. An dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, dass erstens die Qualität des Ephemeren nach wie vor zentraler Bedeutungstrigger und kategorialer Grund von Performance ist. Das ist ein hinreichender Grund, warum Marina Abramovićs Strategie der Re-Inszenierung einen sentimental-schalen Beigeschmack hervorruft.6 Zweitens genau deswegen Medien niemals die Realität einer solchen Kunstäußerung annäherungsweise einzuholen verstehen, sondern – vielleicht ist dies ein Gemeinplatz – eigene Wirklichkeiten konstruieren, in denen eine sinnvolle Argumentation über die Sachverhalte nicht möglich ist. Die Anwesenheit ist mit anderen Worten der hermeneutische Horizont, den gerade Interpretatoren von Performances niemals überschreiten können, ohne die fachliche Integrität aufs Spiel zu setzen. Darin liegt die Crux kunsthistorischer Performanceforschung – vor allem dann, wenn das Werk auf Einmaligkeit hin angelegt ist. Und drittens ist jeder noch so wohlgemeinte Versuch, eine gelungene Performance dokumentarisch zu bannen, schlichtweg absurd, so lange man nicht anerkennt, dass dies nicht einmal ein Relikt, sondern nur eine Art Wirklichkeitsfilter darstellt.

Dass durch eine Anerkennung von Relikten und Dokumenten in Kritik und vor Gericht als Werk bzw. Urteilsgrundlage gleichzeitig der authentische Rezipient um die Autorität seiner Erfahrung bangen muss bzw. gerichtlich entmündigt wird, ist ein zusätzlicher Aspekt. Die Wahrheit jedoch hat ihren Ort nur dort, wo sich etwas ereignet, alles andere ist beliebig verfügbare Knetmasse. Was freilich längst nicht bedeutet, dass an diesem Punkt Forschung aussetzen muss, solange man sich dieses Horizonts bewusst ist.

1 S. Schneede, Uwe M.: Joseph Beuys. Die Aktionen. Kommentiertes Verzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1994, S. 80-83.

2 Wenig Abhilfe bringt diesbezüglich ein „Systemwechsel“, wie er etwa der amerikanischen Kunstgeschichte viel leichter gelingt. Dort gelten als „Performing Arts“ gleichermaßen Theater, Tanz und andere Kunstformen.

3 Hintergrund ist eine scheinbare Verletzung der der Urheberrechtsverpflichtungen an Beuys‘ Werk durch eine Ausstellung der Tischer-Fotografien des Schlosses Moyland, was Eva Beuys, vertreten durch die VG Bild-Kunst, namentlich Gerhard Pfennig, beklagen ließ. S. Urteil vom 28. September 2010 des Landesgerichts Düsseldorf (AZ 12 O 255/09).

4 S. etwa die Kommentare in der Onlineausgabe der Kronenzeitung (http://www.krone.at/Vorarlberg/Flatz-Performance_Polizei_-_Rettung_in_Innsbruck_gerufen-Blutige_Szenen-Story-180719). Beispielsweise schreibt ein treuemaat am 27.1.2010, 23.25 Uhr: „Irre Künstler werden von irren Politiker gefördert!!!“.

5 S. Riemann Musiklexikon, Bd. 3, Sachteil. 12Mainz 1967, Stichwort „Aufführungspraxis“, S. 59 ff. Sowie „Improvisation“, S. 390 ff.

6 Etwa im Guggenheim Museum, New York, 2009. S. Abramović, Marina: 7 easy pieces. Mailand, New York 2007. Oder noch abstruser im MoMA, New York, in der Ausstellung „The Artist is Present“ (14. März bis 31. Mai 2010, anlässlich derer sie Schauspieler engagierte, um ihre wichtigsten Arbeiten zu „re-performen“.