Über den Wandel des Porträts und neuere Tendenzen, die Anlass geben, den Begriff auf metaphorische Art und Weise zu erweitern.
Über Nonnen und Mönche, Kloster, Helden und Porträts im Werk von Roland Fischer und FLATZ
“– Harey, sag doch, was ich tun soll, damit du mir glaubst, daß ich das sage, was ich denke? Daß es die Wahrheit ist. Das und nichts anderes.
– Du kannst nicht die Wahrheit sagen. Ich bin nicht Harey.”
Stanislaw Lem, Solaris, München 2001, S. 165
“absentes pictura praesentes esse faciat”
Leon Battista Alberti, Della Pittura, Liber II, 25
“Alle Idole müssen sterben.”
Einstürzende Neubauten: “Seele brennt” (½ Mensch, 1985)
Was ist ein Porträt heute? Das klingt nach einer banalen Frage, doch Antworten drängen sich nicht so leicht auf. Geht es noch um Identität? Welche Rolle spielt das Gesicht? Wie wichtig ist Ähnlichkeit? Welche Impulse bringt diese Gattung in den Diskurs der zeitgenössischen Kunst ein? Eine Doppelausstellung im FLATZ museum bietet Gelegenheit, sich an das Problem anhand der Fotografien von Roland Fischer und einer Installation von FLATZ heranzutasten. Zwei weitgehend unterschiedliche künstlerische Positionen prägen hier zwei Seiten einer Medaille: einerseits Aspekte des Porträts heute, andererseits, auf übergeordneter Ebene, eine differenzierte Befragung von Individualität. Im Nachdenken über das Porträt bleibt es nicht aus, dass methodische Probleme touchiert werden. Sie sollen zu Sprache kommen, allerdings ist das Problemfeld mittlerweile so riesig, dass die in den Arbeiten angeschnittenen Themen heute ganze Bibliotheken füllen. Es gelingt also nur eine gewisse Spurensuche.
Bereits beim Betreten des FLATZ museums fällt zur linken Hand die großformatige Fotografie einer Nonne in den Blick. Das Bild stammt von Roland Fischer (*1958). Der Künstler firmiert als einer der Pioniere der künstlerischen Fotografie. Seine Arbeiten markieren eine paradigmatische Veränderung der Auffassung vom fotografischen Bild. Im Normalfall bestimmt der Inhalt einer klassischen Fotografie (Dokumentation, Mode, Reportage usf.) die Form, sprich die Form dient dem Inhalt. Fischer ist jedoch einer der Fotografen, die diesen Vorgang umkehren und so weit abstrahieren, dass die Geschichte, der Inhalt allerhöchstens noch Anlass ist.1 Seine Serie “Nonnen und Mönche” reduziert er in Dornbirn auf elf Beispiele. Fotografiert hat er sein erstes rein konzeptuelles Werk von 1984 bis 1986. Zu sehen sind im Hauptraum der Schau neben einem Memento Mori und dem ganzfigurigen Abt-Porträt neun großformatige (170 x 120 cm) Fotografien, Kopfbilder, von Mönchen in Frontalansicht. Die meisten sind noch niemals zu sehen gewesen. Die damalige Labortechnik ließ keine allzu exakten Manipulationen zu. Anlässlich der Ausstellung hat Fischer also noch einmal sein Archiv aufgesucht und festgestellt, dass dort noch eine Menge starker Aufnahmen lagern. Mittels Bildbearbeitung per Computer hat er dann genau diejenigen farblichen Feinabstimmungen vornehmen können, die vonnöten waren, um die Bilder entsprechend der Serie aufzubereiten. Die abgelichteten Menschen sind allesamt Zisterzienser bzw. Trappisten aus französischen Klöstern. Zwei sind mit dunkler Tracht, die anderen sieht man in der Kukulle, die einen sehr starken Schwarz-Weiß-Kontrast bildet. Dies und die deutlich sichtbare Einheitlichkeit des Aufbaus der Fotografien verweisen auf einen hohen Grad an Abstraktion. Die einheitliche Weise zu fotografieren offenbart sich etwa in den neutralen Hintergründen. Mehr Informationen über die abgelichtete Person als das eigentliche Antlitz, das aus der Kukulle hervortritt, bekommt der Betrachter nicht.
Die Installation von FLATZ (*1952) bildet hierzu inmitten desselben Raums einen Gegenpol, wie er pointierter kaum sein könnte. Auf einer von Randsteinen umhegten, mit Moos ausgelegten Fläche stehen in regelmäßiger Anordnung 14 gusseiserne Kreuze. Zwölf von ihnen bilden mittig vier Dreierreihen. Jeweils zwei Reihen zeigen ihre Schauseite zur jeweiligen Wand. Zwei Kreuze markieren einander diagonal gegenüber stehend zwei Ecken des Moosfeldes. Die beiden anderen Ecken füllen zwei ausgestopfte Wölfe. Alle Kreuze erscheinen gleich, lediglich in einem Fall schaut der Gekreuzigte seitenverkehrt in die entgegengesetzte Richtung. Es ist für den Laien auf den ersten Blick nicht zu entscheiden, ob die Figuren hand- oder maschinengefertigt sind. Letzteres erscheint wahrscheinlich. Sprich: Nicht der Künstler hat diese Kreuze nach seinen Vorgaben anfertigen lassen. Sie stammen allesamt vom Totenhof des mittlerweile nicht mehr existenten Kapuzinerklosters zu Bregenz. FLATZ hat sie zum Kauf angeboten bekommen. Diese symbolisch aufgeladenen Gegenstände sind demgemäß Readymades. Die Kreuze tragen keine Namen. Vielleicht handelt es sich um alle verstorbenen Mönche seit 1945. Ein einziges Kreuz verblieb im Kloster. Namen finden sich nur an einer Marmortafel, einem Triptychon, das an einer der Friedhofsmauern angebracht war. Auf der Mitteltafel stehen die Namen aller bis 1945 Verstorbenen. Auf den Seitentafeln sind all diejenigen Namen von Mönchen eingemeißelt, die bis zur Schließung starben. Es sind klingende Namen: Beatus Hufle, Primus, Theodolus, Gandulf usw. – sie geben Hinweise auf Menschen aus dem Rätoromanischen, auch aus Triest, aber mehr erfährt man letztlich nicht. Die Namenlosigkeit, so viel vorab, diente der Vermeidung von Reliquienhandel. Die radikale Absenz von Spuren des Individuellen spiegelt sich in der schlichten Anordnung, mit der FLATZ die Kreuze hat aufstellen lassen. Abgesehen von den beiden Wölfen, die in gewisser Hinsicht als – metaphorisch gesprochen – Signatur des Künstler gelten dürfen, erlebt der Betrachter desgleichen die Zurücknahme des Einflusses eines Schöpferindividuums namens Künstler.
Erster Kontext: das Kloster
Es ist nicht zu übersehen, dass das Kloster (lat. Claustrum = verschlossener Ort) der Hauptkontext der beiden Werkkomplexe in der Ausstellung ist. Historisch ist es aus Einsiedlerkolonien hervorgegangen. Das erste Auftauchen soll für das 4. Jahrhundert in Ägypten bzw. Palästina belegt sein. Das 361/363 entstandene koptische Antonius-Kloster in Ägypten gilt als das älteste der Christenheit überhaupt. Den eigentlichen Prototypen des bis heute gültigen Klosters begründete Benedikt von Nursia 529 in Monte Cassino. Erstmals ist diese Gründung mit der Aufstellung einer Ordensregel verbunden. Die Benediktinerregel gilt als Inkunabel und Vorbild der meisten folgenden klösterlichen Lebensvorschriften. Es ist sicher problematisch, alle Orden vereinheitlicht zu betrachten. Doch teilen sie bis auf wenige Ausnahmen eine ganze Reihe von Eigenschaften: etwa Zölibat, Besitzlosigkeit, Loslösung von der Welt, Gebet, Fasten, einheitliche Kleidung. Den allgemeinen Gelübden kommt besondere Bedeutung zu. Armut heißt Loslösung von den Dingen, Ehelose Keuschheit meint Loslösung vom Körper, Gehorsam ist die Loslösung vom Ich. Mönche sind zu einem Teil nicht mehr von dieser Welt. Z. B. soll der Benediktiner “eine seinen natürlichen Anlagen entsprechende harmonische Persönlichkeit mit besonderer Betonung seines Jenseitszieles werden”.2 Ein weiteres Gelübde verlangte das Verbleiben in ein und demselben Kloster bis ans Lebensende, genannt stabilitas loci (Ortsgebundenheit). Das hatte einen durchaus praktischen Grund, denn es sollte Klostertourismus verhindern.3
Betrachtet man einzig die Regeln und imaginiert das Leben, so drängt sich der Gedanke auf, dass Klöster Komplexitätsreduktionsinstrumente sind. Das sollte man durchaus wörtlich verstehen. Denn an diesen Orten geht es um Disziplinierung qua Normen gegen das zwar auch normierte, aber dennoch im Vergleich vollständig andere Alltagsleben “draußen”, dass durch das diskursive Ereignis der “Normalität” geregelt wird. In sechs Punkten aufgeschlüsselt meint das: a. Das Leben wird nicht als Irrfahrt verstanden und durch Zufälle bestimmt. Im Gegenteil: Es gibt ein Ziel gemäß Benedikt: Selbstheiligung. b. Strikte Ordnungen, Regeln, Tagesabläufe vermeiden persönliches wie gemeinschaftliches Chaos. Das bedeutet den weitgehenden Ausschluss von Unbestimmtheitserfahrungen. c. Die Regeln bedeuten die Entbindung vom Selbstsein, der Selbstverwirklichung und Subjektivität bzw. Subjektwerdung. d. Jeder Bewohner unterliegt einem weitgehenden Anonymisierungsprozess. e. Im täglichen Umgang ereignet sich eine Versachlichung der persönlichen Beziehungen, des Gemeinschaftlichen, hin auf eine Regel, die Ordensregel. f. Das bedeutet gleichermaßen die Umstülpung des Privaten ins Teil-Öffentliche der klösterlichen Gemeinschaft. In umgekehrter Weise funktioniert im Übrigen die Struktur zur Konstruktion des Heldentums.
Das Klosterleben, so wie es sich aus der Ferne als tägliche Übung der Befolgung sakraler Normen darstellt, ist in jeder Hinsicht eine idealisierte Abstraktion des gesellschaftlichen Alltags in Form einer Umstülpung, die sich nicht zuletzt in der Kleidung, insbesondere im abstrahierend wirkenden Ordensgewand, auch materiell zum Ausdruck bringt.4 Den Unterschied zum Alltagsleben charakterisiert ein anderes Verhältnis zu Normalität als in der Welt draußen. In einer vielleicht etwas frechen Abwandlung eines Satzes von Jürgen Link hieße das: “Der normative kategorische Imperativ (“des Klosterlebens”) zieht seine Energie aus der rücksichtslosen Absolutheit seines Geltungsanspruchs […] – der normalistische kategorische Imperativ (im Leben draußen) zehrt […] von der Energie präsumtiver, pragmatischer Alternativlosigkeit: ‘Was sonst? Was soll sein, wenn nicht Normalität?’”5
Zweiter Kontext: das Porträt
Eingangs habe ich die These aufgestellt, dass die Ausstellung von zwei Seiten eine der ältesten Gattungen der bildenden Kunst überhaupt, das Porträt, aktualisiert. Das scheint hinsichtlich der Fotografien von Roland Fischer nahezuliegen, sieht der Betrachter doch zumeist auf denjenigen Bildgegenstand, welchen die Kunstgeschichte in der Regel mit Porträts konnotiert: das Gesicht. Aber auch FLATZ’ Installation ist der Porträt-Gedanke eingeschrieben, selbst wenn kein anderes Antlitz als das von Jesus Christus und das auch noch vierzehnmal zu sehen ist. Bevor ich zur Beantwortung der Frage komme, auf welche Weise die Werke beider Künstler Porträts sind und wie sie diese Gattung gerade in der gelungenen Kontrastierung im Rahmen der Ausstellung aktualisieren, sei ein kleiner kunsthistorischer Rückblick erlaubt, der es gestattet, den Kontext genauer zu erfassen. Das Fachlexikon definiert: “Bildnis oder Porträt (lat. protrahere = hervorziehen), früher auch Konterfei (lat. contrafacere = nachmachen), bezeichnet im Unterschied zum Bild schlechthin die abbildende, gestaltende und deutende Darstellung eines bestimmten Menschen in seiner anschaulichen Erscheinung, d. h. in dem den Sinnen direkt fassbaren Ausdruck seiner sozialen und geistigen Wesenheit. Im Gegensatz zu formalistischen Kunstauffassungen muss das Prinzip der erkennbaren Ähnlichkeit – freilich nicht im Sinne naturalistischer Ähnlichkeit – des Bildnisses und des Dargestellten nachdrücklich betont werden, doch ist bei den großen Porträtisten diese Ähnlichkeit nicht alleiniges Ziel, vielmehr der Ausgangspunkt für das Bestreben, im Dargestellten sein gesellschaftliches Wesen zu erfassen und darin das eigene Verhältnis zu beiden niederzulegen, so dass die Bedeutung, die das Bildnis für den Auftraggeber hat, erkennbar ist.”6 Der Lexikonautor definiert in der Abenddämmerung des DDR-Regimes mit unterschwelligem Pathos. Dabei baut er auf der stillschweigenden Voraussetzung auf, ein Porträt habe immer einen Auftraggeber. Und es lasse durchblicken, welchen gesellschaftlichen Rang eben jener Auftraggeber einnehme. Dass es nicht allein die Ähnlichkeit im Sinne vollkommener Mimesis sei, die ein Porträt ausmache, ist eine kunsttheoretisch logische Einschätzung, denn schiere Abbildlichkeit als virtuose Meisterschaft ist seit der Legende von Zeuxis und Parrhasios bereits allgemeiner, historischer Topos und nicht mehr von alleinigem künstlerischem Interesse, selbst wenn Ähnlichkeit als Kategorie von enormer Bedeutung für die allgemeine Auffassung vom Porträt ist. Der homogenisierenden Tendenz allen Definierens fallen hier offensichtlich Sonderformen zum Opfer. Der Blick vereist zu einem Zeitpunkt der Geschichte, in der Auftraggeber noch an der Tagesordnung waren. In der DDR mag es ja so gewesen sein, dass für jedes Porträt auch gleich ein Auftrag vorgelegen hat, nicht jedoch beim Klassenfeind nebenan.
Bereits 3000 v. Chr. entstand in Mesopotamien der “Kopf aus Uruk”. Im Artikel über das Porträt zählt der Kunstbrockhaus das Artefakt dazu.7 Zu fragen ist, ob das gerechtfertigt ist? Lessing hätte Einwände erhoben, wenn er postuliert: “denn obschon auch das Porträt ein Ideal zulässt, so muss doch die Ähnlichkeit darüber herrschen; es ist das Ideal eines gewissen Menschen, nicht das Ideal eines Menschen überhaupt”.8 Das Interesse des Autors richtet sich also nicht so sehr auf die Ähnlichkeit, als auf die idealisierte Wiedergabe oder Auffassung von einer Person. Weil jedoch die Darstellung stark abstrahiert und idealisiert, ist tatsächlich danach zu fragen, ob es die Einordnung in die Gattung sinnvoll ist. Denn mehr lässt sich über die Frühzeit schon fast nicht sagen, als dass es zunächst Typen-/Idealbildnisse mit Attributen gab, deren kennzeichnende Eigenschaften etwa Insignien waren. So in Ägypten. Dort finden sich wie in der Antike idealisierte bzw. abstrahierte Mimiken, Stirnrunzeln etwa, die nicht als Ausdruck einer individuellen Physiognomie zu werten sind, sondern aus einem Kanon von vielfach einsetzbaren Schemata allgemeiner Bedeutungen (Würde, Rang…) entstammen.9 In altägyptischen Arbeiten erkennt man einen geringeren Grad an Individualisierung. Die Dargestellten besitzen kein Alter, ihre Gesichter sind stilisiert, aber mit teils individuellen Zügen versehen. Ein Beispiel ist die Nofretete (1353 bis 1336 v. Chr, gefunden in der Werkstatt des Oberbildhauers Thutmosis). Zu beachten ist auch die ganz praktische Funktion dieser Bildnisse, die eigentlich kein betrachtendes Publikum adressieren: die Votivbilder befanden sich in den Grabkammern, damit sich der Verstorbene wiedererkennt, sollte er einmal aufwachen oder auferstehen. Das heißt, diese Bilder sind keine autonomen Porträts, sondern zweckgebunden. In der Antike trifft man bereits auf einen römischen Wirklichkeitssinn, und auch etruskische Porträts aus sepulkralem Kontext weisen teils Züge des Hässlichen auf. Aber in die Subjektivitätsfalle sollte man besser nicht tappen. Es dauert noch eine ganze Weile, bis der Gedanke geboren wird, den wir quasi bis heute mit dem künstlerischen Porträt verbinden.
Aufbruch Renaissance. Sie “setzte das menschliche Subjekt, das sie als Individuum feierte, gleich in doppelter Weise ins Bild”, schreibt Hans Belting.10 Denn einerseits durch den Blick, der sich in Form der Zentralperspektive “im Bild wiederfand”.11 Andererseits durch das Porträt. In dieser Zeit ereignet sich – zunächst vereinfacht gesprochen – die Prägung unserer bis heute gültigen Vorstellung von einem Porträt, die eine besondere Charakteristik prägt: Das Porträt ist, hier kann man Belting (nach Panofsky) problemlos folgen, eine symbolische Form. Am besten lässt sich das seitens der Funktion verstehen: Das Porträt diente in gewissem Grade der Identifizierung und Wiedererkennbarkeit, der Abgrenzung einer Person von anderen. Eine historische Bedingung, die zur Entstehung des Porträts im Wesentlichen beitrug, ist das Entstehen des neuzeitlichen Identitätsbegriffs. Und der fällt in die Phase der Identitätsfeststellung auch außerhalb der Kunst. Nimmt man etwa das Rechtswesen im 15. Jahrhundert, so bedurfte der Warenhandel, und das schloss Kreditwürdigkeit ein, beispielsweise beurkundeter Handelskontrakte, in denen die Partner eindeutig identifizierbar sein mussten. Das spiegelte sich in Bildern, die heutzutage primär unter dem Gütesiegel Kunstwerk firmieren. Beispielsweise malte Jan van Eyck einen “Tymotheos” (1432, London Nat. Gallery). Auf der Stein simulierenden Brüstung am unteren Bildrand vor dem Porträtierten findet sich die Inschrift “LEAL SOUVENIR”, die als “getreuliche Erinnerung” zu übersetzen ist. Hinzu treten Datum und Spuren der Verwitterung. Norbert Schneider schreibt hierzu: “Das Bildnis wird zu einem Protokoll, das die ständigem Wandel unterworfene Erscheinung festhalten und konservieren will. Sie beschwört magische Kräfte des Bildes und gibt vor, als Schein Ersatz für die reale Existenz, für das Leben sein zu können. Doch was bleibt, ist die das Sein verbürgende Reproduktion des Netzhauteindrucks, die Wiedergabe optischer Zeichen von Lichtempfindungen also, durch Farbe.”12 Also fungiert das Porträt gleichfalls als Verweis auf Zeitlichkeit, Endlichkeit und Sterblichkeit der menschlichen Existenz. Gemäß Schneider ein latentes Movens aller Porträts. Es sei der Wunsch nach dauerhafter Fixierung der Gegenwärtigkeit einer Person, die in stetem Wandel begriffen ist. Wobei das Bild als magisch stillgestellter Vertreter verstanden wird, in dem eine Demonstration von Macht, Autorität und Prestige zur Aufführung komme.13
Ein weiteres Gemälde belegt die Komplexität der Identitätsstiftung qua Malerei. Sinnigerweise stammt es gleichfalls aus der Hand von Jan van Eyck. Es handelt sich um das Arnolfini-Bildnis, das als gemalte Urkunde zu verstehen sei und zugleich als Erinnerungsbild funktioniert. Giovanni Arnolfini, ein Handelsherr aus Lucca, der sich in Brügge niedergelassen hatte, und die ebenfalls aus Lucca stammende Giovana Cenami, sind im Moment des Ablegens des Ehegelübdes dargestellt. Es bedurfte damals keiner priesterlichen Mitwirkung. Die Ehe wurde durch den rituellen Akt des consensus mit zwei Zeugen geschlossen. Entscheidende Rolle spielt hierbei ein optisches Gerät: “Der Spiegel hängt hinter dem Paar an der Rückwand des Raumes, im optischen Zentrum des Bildes. Über ihm die Signatur: Johannes de eyck fuit hic. 1434. Auf dem Gemälde ist der Spiegel nicht größer als fünf Zentimeter im Durchmesser. Seine bildliche Größe ist natürlich durch den Platz bestimmt, den er im Bildraum einnimmt. […] Das Spiegelbild zeigt die Brautleute in der Rückenansicht und ihnen gegenüber – also hinsichtlich des ganzen Bildes vor ihnen – die beiden Zeugen. So bezeugt der Spiegel deren Anwesenheit. Die ungewöhnliche Signatur über ihm aber besagt, dass einer der Zeugen Jan van Eyck selbst gewesen ist (fuit hic) – darum die Signatur an dieser Stelle des Bildes und ihre Ausführung wie auf einer burgundischen Urkunde.”14
Selbst wenn es den Anschein hat, als beglaubige van Eyck hier eine reale Identität, lässt sich dies nur auf theoretischer Ebene als Extrem behaupten. Natürlich ist der Dargestellte nicht identisch.15 Dagegen spricht ja auch die Funktion als Memorialbild. Dennoch ist die Beglaubigungsfunktion nicht unerheblich, weil sie zugleich auch einen Streit stiftet: den zwischen Ähnlichkeit und Identität, ein abendländisches Problem, das selbst mit der Fotografie nicht ausgeräumt werden konnte und letztlich Licht auf den Diskurs abendländischen Bildgebrauchs wirft. Das Porträt folgt übrigens in der akademischen Gattungshierarchie direkt hinter der Historienmalerei. Dieser hohe Rang begründet sich aus der antiken Seinsordnung, die sich im “porphyrischen Baum”, dem “Baum des Wissens”, einem epistemologischen Ordnungssystem, das der Botanik entlehnt ist, spiegelt. Dort ist das Sein in folgenden Stufen aufwärts organisiert: anorganisch/unbeseelt → organisch belebt → beseelt → Mensch (=ens rationale) → Individuum (etwa Sokrates, Aristoteles…).
Nimmt in der Renaissance das Porträt noch die Doppelfunktion der Authentifizierung und der Subjektkonstruktion bzw. -konstitution wahr, tritt das späte 18. Jahrhundert zumindest auf theoretischer Ebene eine Diskussion über die Relation zwischen Ähnlichkeit und der künstlerischen Qualität los. Beispielhaft kulminiert diese Auseinandersetzung in einer der vier Lehrveranstaltungen zur Ästhetik, die kein Geringerer als Georg Wilhelm Friedrich Hegel anfangs des 19 Jahrhunderts in Berlin hielt. Im dritten Teil der in Mitschriften überlieferten Vorlesungen setzt sich Hegel mit dem System der Kunst auseinander und betrachtet das Porträt hinsichtlich seines Kunstwerkcharakters:
“Damit jedoch das Porträt nun auch ein echtes Kunstwerk sei, muss, wie schon erinnert, in demselben die Einheit der geistigen Individualität ausgeprägt und der geistige Charakter das Überwiegende und Hervortretende sein. Hierzu tragen alle Teile des Gesichts vornehmlich bei, und der feine physiognomische Sinn des Malers bringt nun eben die Eigentümlichkeit des Individuums dadurch zur Anschauung, dass er gerade die Züge und Partien auffasst und heraushebt, in welchen diese geistige Eigentümlichkeit sich in der klarsten und prägnantesten Lebendigkeit ausspricht. In der Rücksicht kann ein Porträt sehr naturtreu, von großem Fleiße der Ausführung und dennoch geistlos, eine Skizze dagegen, mit wenigen Zügen von einer Meisterhand hingeworfen, unendlich lebendiger und von schlagender Wahrheit sein. Solch eine Skizze muss dann aber in den eigentlich bedeutenden, bezeichnenden Zügen das einfache, aber ganze Grundbild des Charakters darstellen, das jene geistlosere Ausführung und treue Natürlichkeit übertüncht und unscheinbar macht. Das ratsamste wird sein, in betreff hierauf wieder die glückliche Mitte zwischen solchem Skizzieren und naturtreuem Nachahmen zu halten.”16
Hier spätestens deutet sich an, dass die “polizeiliche” Funktion des Porträts zugunsten der Kunst und dem Künstlerischen weitgehend aufgegeben wurde und der Diskurs den Bereich des juridischen verlassen hat bzw. sich das Juridische des frühen Diskurses hin zur einer Verhandlung der Bedeutsamkeit von Wiedererkennbarkeit aus ästhetischen Gesichtspunkten verlagerte. Damit einher gehen auch Bildauffassungen, die Menschen porträthaft zeigen, sie aber nicht per Eigennamen benennen. Vielmehr attribuieren sie Berufsgruppen und spiegeln damit die Vorstellung eines individuellen Antlitzes als Pars pro Toto etwa der Arbeiterklasse. Mit der Verbürgerlichung der Gesellschaften also und allerspätestens mit der Verbreitung der Fotografie und dem Publizieren von Bildern in den gedruckten Massenmedien beginnt dieser Aspekt spätestens bedeutsam zu werden. Kurz erinnert sei an dieser Stelle stellvertretend an das 1849 von Gustave Courbet gemalte Bild der “Steineklopfer” oder an Jean-François Millets “Mann mit der Hacke” (1861-62). Die Vertreter der Schule von Barbizon schufen einen sozialen Realismus, in dem die Figuren porträthaft, jedoch namenlos, stellvertreterhaft in Erscheinung traten. An dieser Stelle wird deutlich, wie überdeutlich sich gesellschaftliche Diskurse um Subjektivität und Individualität bzw. das Individuum anhand der Gattung des Porträts ablesen lassen.
Kunsthistoriker gehen gern auf Nummer Sicher. Schaut man in die Literatur zum Thema, etwa ins populäre Buch von Norbert Schneider, umfasst er lediglich die Zeitspanne von 1420 bis 1670. Zudem beschränkt sich der Autor auf die Malerei.17 Desgleichen Andreas Bayer in seinem opulenten Band von 2002. Nur reicht sein Denken und Beschreiben bis ins 20. Jahrhundert.18 Auch er beschränkt sich auf die Malerei und beschließt sein Werk mit vier Bildern von Imi Knoebel von 1998, die auf den ersten Blick nicht mehr zeigen, als jeweils fünf farbige Rechtecke.19 Diese Bilder führen zu einer Spur, die anzeigt, inwieweit sich der Begriff des Porträts als Instrument der Authentifizierung gewandelt hat. Es ist legitim, sich auf Flachware zu beschränken, aber nur so lange, wie man in den ruhigen Fahrwassern klar voneinander abgegrenzter Gattungen in technischer Sicht flößt. Diese Begriffe, und Imi Knoebel belegt meine These paradigmatisch, sind allerdings für die bildende Kunst spätestens seit den 1960er Jahren nur mehr als epistemologische Metapher dienlich und daher weiter zu fassen.20 Eine Eingrenzung der Bildniskunst auf die Malerei ist meines Erachtens im Falle zeitgenössischer Kunst eine unzureichende Beschränkung. Es verliert sich nämlich dann die Vergleichbarkeit eines Werkzyklus wie dem von Knoebel mit Arbeiten seiner Zeitgenossen. Bayer interpretiert: “Knoebels Bildnisse sind lehrreiche Schautafeln, die daran erinnern, daß auch ein Porträt zuerst und vor allem ein Gemälde, eine Struktur aus Farbe und Form ist.” Und mit Bezug auf Honoré de Balzacs “Das unbekannte Meisterwerk” von 1831 wertet er die Bildnismalerei bzw. die Malerei als solche als eine Gattung, die trotz Entfernung, was heißt Abstraktion, vom wiedergegebenen Gegenstand, sich “unausgesetzt” darum bemühe, “sich [dem Gegenstand] zu nähern”.21 Damit ist viel Allgemeines über Malerei, aber nicht viel über zeitgenössische Bildniskunst gesagt. Wie weit also lässt sich der Begriff des Porträts überhaupt dehnen? Und was erfasst er? Ein Wort muss demgemäß noch über die Sonderfälle des Porträts verloren werden. Ansonsten wäre der Bezug der Ausführungen zur Ausstellung von Roland Fischer und FLATZ nur zur Hälfte von Belang. Jedenfalls muss von einem Porträt auf jeden Fall auch, überträgt man das Imdahlsche Denken, von einem Vorstellungsbild gesprochen werden, ganz gleich, ob es sich um Fotografien, Plastiken oder andere technische Realisate handelt.
Antlitzlos – Hoogstraten, Duchamp, Clarke, Dawid und FLATZ
Bislang beschränkten sich alle erklärenden Äußerungen zum Porträt auf den Menschen und sein Gesicht. Methodisch mag das als Differenzkriterium zu anderen Sujets durchaus Sinn ergeben. Doch was ist mit Bildern oder Werken, die eindeutig auf eine Person oder Kriterien des Individuellen abzielen und doch keine menschlichen Spuren aufweisen. Dann sollte der Terminus Porträt als epistemologische Metapher verstanden werden. Sicher lässt sich nicht jede Erscheinung unter den Begriff subsumieren. Allerdings findet sich in der Kunstgeschichte mehr als ein Beispiel für ein (Selbst-)Porträt, in dem beispielsweise ausschließlich Dinge zu sehen sind. Ohne Antlitz, das heißt nicht ausschließlich ohne Spur alles Menschlichen. Sinn ergibt sich etwa in dem Sonderfall der höchst intellektualisierten Trompe l’œil-Stillleben von Samuel van Hoogstraten.22 Hier sind es Gegenstände aus dem privaten Leben des Malers, selbst verfasste Bücher, Ehrenzeichen, Lobgedichte, die im Display eines scheinbaren Augenbetrügerbildes den Künstler nur aus der Gegenstandswelt repräsentieren.
Auf ähnliche Weise wie die Bilder von Hoogstraten funktioniert “De ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy (Boîte-en-valise)” von Marcel Duchamp aus den Jahren 1935-1941. Abgesehen von der Preisgabe einer passiven Betrachter- hin zu einer aktiven, wählenden, haltenden Rezipientenauffassung finden sich in diesem Multiple Miniaturrepliken und Farbreproduktionen der Werke von Duchamp in 69 Teilen. Auch hier spricht der Künstler durch sein Schaffen und bewirbt sich mit verkleinerten Reproduktionen seiner “Originale”.
Eine andere Kategorie stellen diejenigen Arbeiten dar, welche kein Selbstporträt sind. Kevin Clarke etwa beschäftigt sich seit den 80er Jahren mit der Extension des Porträt-Begriffs. “From The Blood Of The Poets” ist eine Serie von Porträts, die auf DNA-Sequenzen von Künstlern und Wissenschaftlern basiert. Clarke kombinierte das Ergebnis der grafischen DNA-Analyse eines Erbgutparts mit sehr individuellen Merkmalen des Porträtierten mit seinen fotografischen “Meditationen über Archetypus, Identität und Icon”.23 Hier funktioniert das Porträtieren einerseits über die Werke, die der Porträtierte schuf, andererseits über die – in Relation zum Gesicht – abstrakteste und zugleich konkreteste Manifestation des Individuellen in der DNA.
Die Serie “M+M” des 1949 in Örebro geborenen schwedischen Fotografen Dawid (Björn Dawidsson) mit 33 Bildern “in Erinnerung an zwei liebe Verwandte” ist ein ausgezeichneter Beleg für die These, dass der Begriff des Porträts heute wesentlich angemessener ist, wenn sein Hoheitsgebiet über Malerei und die Darstellung des Gesichts ausgeweitet wird auf das Reich der Dinge. Die vollständig vom Biologischen abstrahierenden Fotografien sind 1990 auf 40 auf 50 Zentimeter großem Papier von 18 mal 24 Zentimeter großen Negativen abgezogen worden. Sie zeigen schlichte Werkzeuge als schwarze Silhouetten vollkommen ohne Räumlichkeit. Wäre da nicht die kostbar anmutende Qualität des Papiers, könnte man meinen, es handele sich gar nicht um Fotografie.24 Die Dinge sind lapidar: Schraubendreher, Schraubzwinge, Vorhängeschloss oder Zange. Sie gehörten jedoch Onkel und Tante des Künstlers. Und in gewisser Weise bieten sie eine Projektionsfläche für all diejenigen Eigenschaften, die der Betrachter nicht kennen kann. Und sicher, er muss wissen, um was für Gegenstände es sich handelt, ansonsten schössen die Spekulationen ins Kraut. Jedoch öffnet sich mit solch einer Arbeit ein Möglichkeitsraum, der weit über die üblichen Vorstellungen des Porträts hinausgeht. Das allerdings ist kein theoretischer Selbstzweck. Denn erst in der Erfassung und Interpretation des Inventars als Porträthaftes erscheint das Darstellen derartiger Dinge als sinnvoll insofern, als das Tun, das Aufprägen des Eigenen durch den Gebrauch in seiner Dimension bewusst wird. Mit den Dingen zu Leben heißt nämlich auch, durch sie geprägt zu werden. Das ist natürlich nicht die einzige Strategie, ein Porträt quasi zu formieren, ohne dass ein Mensch in Erscheinung tritt. Mit der Arbeit “Unknown Heroes” von FLATZ tritt ein weiteres Modell auf den Plan.
Dritter Kontext: der Held
Warum Helden? Assoziationen um den paradoxen Titel “Unknown Heroes” drängen sich schlichtweg auf. Was also ist ein Held. Heute liefert die Wikipedia eine brauchbare Erklärung: “Ein Held (griechisch ἥρως hḗrōs, althochdeutsch helido) ist eine Person mit besonders herausragenden Fähigkeiten oder Eigenschaften, die sie zu besonders hervorragenden Leistungen, sog. Heldentaten, treiben.”25 Es greift wohl nicht zu kurz, wenn man behauptet, dass Helden institutionalisierte Außenseiter sind – übrigens wie Künstler. Ein Held ist allerdings nur mit Blick auf die jeweilige Gesellschaft, die ihn hervorbringt, denkbar und verständlich, denn Heldsein ist kein transzendentales Sein, sondern Funktion und Instrument von Herrschaft. Ein Held verkörpert (Un-)Tugenden seiner jeweiligen Epoche und mutiert zum Paradigma: “Helden überleben ihren Tod, ob im Kyffhäuser oder im Lateinunterricht, auf Briefmarken oder in Straßennamen. Denn Heldenglanz und Heldentaten von Julius Cäsar bis John Lennon beglaubigen uns die Richtsätze unseres Denkens und Handelns: Heldenverehrung bedeutet, Zweifel von vornherein nicht zuzulassen.”26 Hier schneidet sich sich die Heldenverehrung mit dem Heiligwerden des Mönches. Auch er darf keinen Zweifel zulassen. Und es gibt spätestens seit dem 16. Jahrhundert Techniken, diese Beelzebuben auszuschließen.27 Der Gründer des Jesuitenordens, Ignacio de Loyola, der diese Techniken des Entzweifelns erfand, war übrigens selbst einmal auf der anderen Seite, nämlich ein kriegerischer Militär. Diese Dialektik der Verwandtschaft von Mönch und Held ist es, die wie ein roter Faden in die Geschichte eingewoben ist. Das hat jedoch seine Ursache in der Materie selbst. Johann-Karl Schmidt zieht in seinem Text das triste wie erhellende Fazit: “In der Wirklichkeit kann nur das Böse herrschen, denn Herrschen macht böse. Der Versuch einer anderen, nicht mit dem Bösen verzwirnten Kultur proklamierte sich ‘Helden der Arbeit’, ‘Helden des Aufbaus’ – und scheiterte an der Lächerlichkeit dieses Widerspruchs. Unsere Helden nämlich leben – als Täter oder als Opfer – vom Bösen: List, Mord, Gier, Gewalt, Intoleranz.”28 FLATZ’ damalige Arbeit, zu der jener Text entstand und die an der Stelle der Doppelausstellung normalerweise in Auszügen zu sehen ist, führt in summa jene Behauptungen zum Bewusstsein. Aber auch hier ändern sich die Zeiten, und heute heißt alles und jeder Held: inflationärer Gebrauch umfasst “Helden des Alltags” in Kolumnen von regionalen Tageszeitungen etwa. Im Unterschied zu den desubjektivierten Mönchen sind Helden übersubjektiviert. Und entziehen sich dann aber des persönlichen Zugriffs, indem sie zu Imagines mutieren, gleichwie ein Mensch entrückt, wenn er ins Kloster eintritt und gen Selbstheiligung entschwindet.
Umwertungen und Erweiterungen
Der Blick auf die wichtigsten Kontexte hat ergeben, dass die Geschichte des neuzeitlichen und modernen Porträts im Abgleich mit der Charakterisierung des Klosterlebens scheinbar eine Unvereinbarkeit aufzeigt: Individuierung auf je unterschiedliche Weise einerseits, radikale Entindividuierung andererseits. Die Frage ist nun, ob und wie relevant dies für das Verständnis der gezeigten Exponate ist. Bei Roland Fischer zeigt sich schon in der durch ihn geschilderten Werkgenese, dass die Entindividuierungsprozesse und -zeichen des Klosterlebens Faktoren, quasi Auslöser für das Werk selbst bildeten. Ausgangspunkt war die Fragestellung: “Wie kann ich heute überhaupt noch ein Porträt bilden?” Fischer nahm die Mönche im Stadtbild wahr und empfand ihr Wandeln in der Tracht als starke Abstraktion der menschlichen Figur. Im Gespräch sagte er mir, die Mönche seien für die von ihm beabsichtigte Fotoarbeit quasi ein “Readymade” gewesen. Das Porträt authentifiziert also in diesem Fall keinen individuellen Menschen in seinem Je-Spezifischen, Individuellen.29 Das heißt auch, die Bilder beglaubigen nicht das Quasi-Individuelle, das künstlerisch interpretierte Charakterliche, das der geschickte Künstler im Sinne Hegels, Frankls oder auch des Autors im DDR-Kunstlexikon ohne allzu großen mimetischen Grad herzustellen imstande ist. Und für die aller korrekteste Wiedergabe ist der Passbildautomat zuständig. Die fotografische Abstraktion und das abstrakte Leben der Mönche erheben die realen aber zur Gänze unbekannten Figuren zu Stellvertretern der Spezies “ens rationale”, allerdings ohne dass ihre je individuellen Eigenarten für die Bildbedeutung eine Rolle spielen würden. Wie denn auch? Sämtliche Bilder tragen krude Nummern als Titel. Man weiß nichts von den Dargestellten. Optische Rahmenbedingungen und Größe konzentrieren den Blick aufs Antlitz. Das Auslegen von Individuellem wiederum ist nur der je persönlichen Interpretation des Betrachters anheim gestellt. Individualität kann nicht eingefroren werden und ist immer nur je ein Zustand von unendlich vielen denkbaren. Das jeweilige So-und-nicht-anders-sein der Porträtierten spielt aufgrund der “Tatenlosigkeit” in der heldenfreien Zone keine Rolle. Es verwandelt sich in die schiere Projektionsfläche des Betrachters. Damit wächst die ehrwürdige Gattung des Porträts aus ihrer festen Haut als Beglaubigungsinstrument für Individualität hin zu einer kategorialen Frage-Instanz an dieselbe.
Bei FLATZ’ Installation geschieht dies mittels des Nicht-Sichtbaren, der totalen Absenz, quasi der Auslöschung und der Bloßlegung eines Erinnerungsinstruments, nämlich des Grabkreuzes, als “Werkzeug” zur De-Individualisierung. Und ohne groß auf die Konnotationen einzugehen, die sich angesichts der die beiden Ecken hütenden Wölfe ergeben, denkt man doch ganz schnell in diesem Zusammenhang an das sprichwörtliche Heulen mit ihnen. Der Titel selbst führt überdies den Begriff des Helden ad absurdum. Weiters: FLATZ mutmaßt in einer E-Mail an mich, dass alle 29 Kreuze bis 1945 “zu Kanonen verarbeitet wurden”. “Schöne Vorstellung… Eiserne Kreuze… Als Kanonenkugeln”. Denkmäler, Werkzeuge, anonyme Soldaten, Helden. Es rotiert. Das Porträt eines bestimmten Individuums verliert sich in dem Unbestimmtheit erzeugenden Komplexitätsreduktionsinstrument namens Kloster. Wir sehen bei Fischer Individuen, doch sie sprechen zu uns nur als Spekulationen der Möglichkeit heutigen Porträtschaffens. Wir sehen Kreuze und Wölfe und entdecken, dass im Grunde dort nur Schrift ist, aber kein Fleisch und Blut. Denn selbst die Grabkreuze sind letztlich metallene Grafiken, Multiples ohne den Odeur des Individuellen eines speziell von einem Künstler für einen einen speziellen Auftraggeber geschaffenen Porträts. Es sind Icons oder beinahe sogar Schriftzeichen, Hieroglyphen gewesener Existenz, deren Kennzeichen es war, kein Individuum zu werden. Und zwar derartig total, dass bis zum Schluss nichts mehr blieb als etwas Schriftähnliches und gegebenenfalls der Eigenname in Form einer Inschrift – andernorts. Dem Jenseitigen verschrieben. Per aspera ad astra. Den Ruhm dafür kassieren jedoch andere, die nicht wirklich sind. Das ist wahres Heldentum.
Und was steht hinter alldem? Dreht man die Schraube der Deutung noch ein wenig an, kommt man vielleicht zu dem Schluss, dass es um Zustände von Normalität bzw. Erschütterungen unseres Normalismus geht. Und dass sich die herrschenden Verhältnisse in gewisser Hinsicht bestätigen. Die Gesellschaften in ihren Normalbereichen, das zeigen die beiden Werkkomplexe von Roland Fischer und FLATZ aus der anderen Perspektive, da mag gerade im derzeitigen Kunstsystem noch so sehr das Ende des Anthropozentrismus herbeigesehnt werden, zentrieren nach wie vor auf unverwechselbare Individuen. Und vor allem benötigen sie die normalisierende Potenz des Verfahrens der Individuierung. Geeignete Medien hierfür sind beispielsweise der Konsum und die immer noch affirmative Einstellung zu Vorbildern, die qua De-Normalisierung zu überstilisierten Helden werden. Wenn auch manchmal nur für 15 Minuten. Man denke nur einmal an die inflationär verbreiteten Castingshows. Das Normale lässt sich nur anhand der Abschweifungen von einem Gaußschen Mittel oder anderen berechen- und vergleichbaren Größen ermessen. Anhand der recht radikalen Beispiele von Mönchen und Nonnen erklären beide, FLATZ wie Fischer, auf komplett verschiedene Weise die Funktionen dieser herrschaftstabilisierenden Individualitätsschleudern und zwar mithilfe von Menschen, deren Leben genau das nicht ist. In mehrfacher Hinsicht, das sollten meine Überlegungen zeigen, präsentiert sich hier ein Reigen an Umwertungen, Erweiterungen, Umstülpungen des Porträtbegriffs, dem nicht mehr das je Spezifische des Einzelnen am Herzen liegt, sondern gerade durch die besondere Wahl und Weise der Aufbereitung und Erweiterung des Porträts, dass hier eine künstlerische Gattung nicht mehr nur aus rein technischer Sicht als Malerei oder Bildhauerei, oder inhaltlicher als Darstellung des Gesichts firmieren kann. In der Übertragung der wesentlich größeren Aufgabe als Medium der Erkenntnis verbindet sich mit dem neuen Porträt die Hinterfragung von Individualität und Subjektivitiät schlechthin.
© Matthias Kampmann 2012
1 S. vor allem den Aufsatz von Sarah K. Stanley im Ausstellungskatalog der großen Retrospektive zu Fischers Werk im Saarland Museum. Sarah K. Stanley: Roland Fischers Logik der Sensation – Porträtfotografie, in: Roland Fischer. New Photography 1984-2012. Hrsg. Meinrad Maria Grewenig. Heidelberg 2012, S. 13-18.
3 Für eine ganze Reihe von Hinweisen bezüglich Geschichte und Eigenart des Klosters danke ich Roland Fischer ganz herzlich.
4 Dies ist übrigens ein wichtiger Aspekt für Roland Fischer bei der Auswahl von Mönchen als Protagonisten für seine Serie gewesen.
5 Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 17.
6 S. Lexikon der Kunst. Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie, Bd. 1, A-Cim, E. A. Seemann, Leipzig 2004 (2. Auflage, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1987), S. 558, Sp.1, Herv. im Original.
8 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, in: ders. Werke in sechs Bänden, Band 4, Leipzig (Reclam) o. J. (um 1910), S. 96.
9 S. Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Hg. v. Otto Schmitt, Band 2, Stuttgart-Waldsee 1948, S. 640 ff.
11 Belting definiert a. a. O., S. 25: “Der perspektivische Raum wird nur im Blick und für den Blick erzeugt, denn es gibt ihn nur auf der Fläche, die von Hause aus nicht Raum ist und nicht Raum hat.”
13 S. Jutta Held, Norbert Schneider: Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche – Institutionen – Problemfelder. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 102 f.
14 S. Hermann Ulrich Asemissen, Gunter Schweikhart: Malerei als Thema der Malerei. Berlin 1994, S. 70 f. Herv. i. Original. S. mit Blick auf einen weiteren großen Künstler der Renaissance, Albrecht Dürer, den lesenswerten Katalog: Daniel Hess, Thomas Eser (Hrsg.): Der frühe Dürer. Nürnberg 2012, S. 260-295. Dort finden sich zahlreiche Zeugnisse neuzeitlicher Subjektkonstruktion, etwa das “Memorialbuch des Ulman Stromer” (Kat. 11, S. 279), das Ereignisse aus dem Familien- und Geschäftsleben einer Nürnberger Kaufmannsfamilie um 1390, 1400 verzeichnet.
15 S. Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance. München 1985, S. 91.
16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, in: Hegel Werke Bd. 15, S. 102. Eine Definition mit Folgen bzw. Einflüssen auf die weitere Geschichte der theoretischen Einordnung und Charakterisierung des Porträts. Paul Frankl etwa schreibt viel später1938: “Es wäre nicht richtig, die genaue Replik mit dem Porträt gleichzusetzen, denn das Porträt ist ebenfalls umstilisierbar. Man meint mit Porträt die Wiedergabe eines bestimmten vorhandenen (oder vorhanden gewesenen) Naturvorbilds, man meint das Spezielle und Spezialisierte, aber das Porträt kann dieses spezialisierte Vorbild generalisieren, d. h. regulieren, verregelmäßigen, oder zweitens typisieren, was z. B. auch soviel wie karikieren bedeuten kann, oder drittens idealisieren und viertens entweder in der Richtung auf Sein oder Werden umbilden.” S. Paul Frankl: Das System der Kunstwissenschaft. Berlin (Reprint) 1998, S. 422.
18 Andreas Bayer: Das Porträt in der Malerei. München 2002. Allerdings beziehen sich beide auf die antike Skulptur. Warum tauchen dann nicht auch Porträtskulpturen, die immer und zu jeder in Frage kommenden Zeit entstanden, in den Büchern auf? Max Imdahl hingegen denkt gattungsübergreifend und beschreibt in einem paradigmatischen Text über das Porträt auch die Plastik “Diego” von Alberto Giacometti. Cf. Max Imdahl: Relationen zwischen Porträt und Individuum, in: ders. Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften Band 3, hrsg v. Gottfried Boehm. Frankfurt/Main 1996, S. 591-616. Allerdings irrt Imdahl hinsichtlich des scheinbar “besonderen Authentizitätscharakters des Fotos” (S. 593). Hier unterschätzt er die Möglichkeiten der künstlerischen Fotografie. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass der Text bereits 1988 entstand.
19 Ebda, S. 385 f.; “Barbara”, “Susanne”, “Hanna”, “Martha”, jeweils 50 x 35 x 8 cm, Acryl auf Holz.
20 Zum Begriff der epistemologischen Metapher s. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/Main 81998, S. 160 ff. sowie Matthias Kampmann (ehem. Weiß): Netzkunst. Ihre Systematisierung und Auslegung anhand von Einzelbeispielen. Weimar 2009, S. 118.
22 S. Celeste Brusati: Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten. Chicago, London 1995, S. 138 ff. sowie Matthias Kampmann: Das Verhältnis von Wirklichkeit zu Bildwirklichkeit in den Trompe l’oeil-Stilleben von Samuel van Hoogstraten, unveröffentlichte Magisterarbeit an der Ruhr-Universität Bochum1997 (Download des PDF: unter http://www.weisskunst.de/mss/20090501hoogstratenCC.pdf), S. 37-41.
24 S. Dawid. M+M Serie 1990. Ausstellungskatalog Museum Folkwang Essen (5.8.-27.9.1993). Essen 1993.
26 Johann-Karl Schmidt: Heldenvergiftung im Park, FLATZ Zeige mir einen Helden … und ich zeige Dir eine Tragödie, Ostfildern 1992, S. 7f.
29 Das ist gespenstisch, findet allerdings generelle Entsprechung in Roland Barthes’ Fototheorie. S. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/Main 1989, S. 22 f.
Matthias Kampmann über die Ausstellung im FLATZ Museum | Roland Fischer – FLATZ from Hansjörg Kapeller on Vimeo.