Die komplizierte Einfachheit der Dinge und des Handelns im Werk von Jårg Geismar
Vortrag in der Kunsthalle Kiel anlässlich der Ausstellung “Blumen der Fremde”von Jårg Geismar (19.01.1958-26.02.2019) im Mahnmal Kilian im Flandernbunker, Hindenburgufer 275, 24106 Kiel
© Matthias Kampmann 2012
Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Jårg, Jens,…
Als erstes möchte ich mich bei Ihnen/Euch für die Gelegenheit danken, dass ich nach fast drei Jahren der Absenz intensiver über diese Kunst nachdenken durfte. Und die Ergebnisse des jüngsten Nachdenkens – so viel vorab – besitzen allenfalls momentane Gültigkeit und können keinen Anspruch auf endgültige Wahrheit erheben. Warum das so ist, das hoffe ich, im Verlauf meiner Ausführungen aufscheinen zu lassen.
Das Motto, eine Textzeile aus Depeche Modes Song “Judas”, ging mir bei meiner ersten Gedankensammlung zum heutigen Vortrag blitzartig durch den Kopf. Der kleine Soundtrack im Hirn wandelte sich zu einer fixen Idee, an der ich Sie heute ein klein wenig mit meinen Überlegungen zu den Arbeiten von Jårg Geismar teilhaben lassen möchte.
Ist Einfachheit am besten, oder ist es der Einfachheit halber das Einfachste, könnte man die Zeile etwas verschraubt übertragen. “Simplicity” kann jedoch gleichermaßen Schlichtheit oder Naivität bedeuten. Und “simply” lässt sich mit lediglich übersetzen. Ohne tiefer in die Exegese einzusteigen – was auch angesichts des Texts, der ein Lied über eine irgendwie dramatische, unerfüllte Liebe ist, unangemessen wäre – führt mich die Zeile dennoch schlagwortartig zu zwei Faktoren, die mich in der Auseinandersetzung mit Geismars Werk immer irritiert haben. Einerseits gibt es da diese Dingvielfalt, die ihre Herkunft oftmals im Alltag besitzt, sich aus dem Einfachen speist: Blumen, Fische, Kämme, Nippes, Pfennige, Pkw-Torsi, Tand, Wachsmalkreiden, Ventilatoren, Zeitungsseiten und jede Menge Nylonfäden, Wäscheleinen vielleicht.
Das ist ja kunsthistorisch erst einmal nichts Ungewöhnliches. Die Tradition der Verwendung alltäglicher Gegenstände ist lang und kulminierte erstmals und aufs Nachhaltigste im Werk von Marcel Duchamp in seinen legendären Readymades. Der Bogen spannt sich über Künstler wie Andy Warhol, aber auch Joseph Beuys und die Fluxusbewegung, oder in intellektualisierter Form bei den Situationisten, über Handlungen und Performances etwa von Vito Acconci und Chris Burden bis heute. Und gerade in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, als Jårg Geismar mit seiner Kunst an die Öffentlichkeit trat, gab es so etwas wie eine Renaissance der kleinen Dinge in der bildenden Kunst. 1992 etwa gelangten Ulrich Meisters Kinderbälle, Schwämme, Schrubber, die mit nicht zu klassifizierenden, verrätselnden Poesien – halb Beschreibung, halb Gedicht – auf Jan Hoets Documenta zu größerer Bekanntheit. Oder Guillaume Bijls seltsame Nachbildungen zum Beispiel von Reisebüros oder Autohäusern, deren Familienähnlichkeit mit ihrem Original in der außerkünstlerischen Realität jeweils durch leichte Verfremdungen verstört wurde. John Armleder, der frühe Tony Cragg, Fischli/Weiss – die Liste lässt sich beinahe endlos fortführen. Das Zeug, um in gebotener Vorsicht mit Heidegger zu reden, also diejenigen Gegenstände, welche mit dem alltäglichen Besorgen zu tun haben, war niemals so präsent wie in diesen Jahren. Heidegger meinte, dass das Zeug, verfasst zu einer Werkwelt und dem Menschen innerlich vertraut, nicht erkannt zu werden brauche, denn er beherrsche es aus seiner unmittelbaren Praxis. Das kehrten die Künstler um und verkehrten damit sowohl den Werk- und Kunstbegriff als auch den der Wirklichkeit. Aber bei Geismar war und ist immer alles anders – irgendwie [behaupte ich]. Der folgende, anregende Satz umschreibt einen Aspekt, den die Dinge bei ihm umfassen: “sensing the world through anti-authoritarian objects, all of which are quite ordinary and mundane, like thin wires, transparent sheets, or folk crafts.” (Hiroshi Minamishima, 2008, Kat. “unterwegs – contemporary future”, Deutsche Botschaft, Tokio).
Andererseits ist in der Depeche-Mode-Zeile auch ein Vorwurf versteckt: Macht man es sich mit dem Einfachen nicht zu einfach?
Bevor ich zur Entwicklung einer These über das Werk von Jårg Geismar komme, möchte ich mich ihm annähern. Und zwar in der Form einer, und das ist gleichfalls von enormer Bedeutung, ganz persönlichen Reflexion über eine Reihe von Aspekten und Faktoren, die sich aus einigen Beispielen anhand meiner ganz persönlichen Rezeptionsgeschichte und Bekanntschaft mit dem Künstler speist.
Ich bin kein Kunstsammler. Dazu fehlt mir schlicht das Geld und gewissermaßen auch die Passion für das Sammeln. Allerdings begleiten mich auch im Privaten die einen oder anderen Kunstwerke. Mal habe ich ein Multiple von Dieter Roth, einen Pilz, der in einer Spielkartenschachtel auf einem gezeichneten Stuhl wächst und wächst, geschenkt bekommen. Dann sind da ein paar Flachwaren, die ich geflissentlich nach jedem Umzug aufhänge. Mit diesen Stücken lebe ich seit Jahren. Bunkern muss ich keins. Zwei von ihnen nehme ich regelmäßig in die Hand. Sie stehen immer in greifbarer Nähe in meinem Büro. Jårg Geismar hat sie gemacht und mir geschenkt. Das eine ist die Edition, die anlässlich der Ausstellung “Low Budget”, 1997 hier in der Kunsthalle, entstanden ist. Das andere ist, so schrieb er mir kürzlich “nice little box” von 1995/96 aus der Werkgruppe: “Friede, Freude, Eierkuchen”. Eine zweckentfremdete Zigarettenschachtel mit Fotoabzügen und Texten ist die eine, die andere eine gestisch rot lackierte Streichholzschachtel mit einem Clip von einem rahmenlosen Bildhalter als quasi Sockelsurrogat. Schiebt man diese Box auf, sieht man dort ein ausgeschnittenes Zeitungsfoto. Das ist schon derart verblichen, dass sich kaum noch erkennen lässt, was es einmal darstellte. Außerdem schlägt der Klebstoff durch. Man sieht eine Wand, auf die ein Strahler gerichtet ist, und vielleicht sind es Schiffe, die da als Schatten auftauchen. An seinem Projekt durfte ich auch teilnehmen. Denn zu “Friede, Freude, Eierkuchen” gehörte 1996 zudem ein kleines Büchlein, ein Katalog zur Ausstellung in der Galerie Gabriele Rivet, zu dem er ganz unterschiedliche Menschen bat, einen Text zu dem Slogan zu verfassen. Alle schrieben quasi anonym, nur die Initialen stehen unter den sehr subjektiven Texten. Ich berichtete seinerzeit von der Love Parade, die unter diesem Motto firmierte, um als politische Demonstration anerkannt zu werden, und was mich damals außerordentlich beeindruckte, waren die höflichen Raver, denen man auf die Füße treten konnte und die sich dann auch noch bei einem entschuldigten. Bezeichnenderweise schloss mein Text mit dem Satz ab: “Ab und an scheint auch mal Einfachheit eine Alternative zu sein.” Auch diese Form der Partizipation habe ich sehr gemocht: also nicht einfach nur den Fachmann einen Fachtext wie in einem herkömmlichen Ausstellungskatalog über das Werk verfassen zu lassen, sondern mit diesen vielen Stimmen ein Bild zu erzeugen. Es wird darauf zurückzukommen sein.
Beide Objekte bezeugen ihre Einfachheit durch ihre Herkunft aus dem Alltäglichen. Erfuhren aber eine Mutation durch den Eingriff des Künstlers. Doch Geismar nobilitierte sie nicht. Es ist ja denkbar, etwa die Streichholzschachtel in Bronze zu gießen und sie somit materialiter in die erhabene Tradition der klassischen Bildhauerei zu überführen. Oder qua Text wie bei Ulrich Meister, per opulenter, räumlicher Intervention wie bei Bijl. Auch die Fotos sind schlicht im Großlabor auf Agfa-Papier abgezogen und per Hand auf das Format der weißen Schachtel zurecht geschnitten. Die Druckqualität der Einleger ist – wieder einmal – bewusst einfach gehalten. Es sind entgegen dem Gedanken einer Edition eigentlich alles Unikate. Ich werde nicht müde, sie immer wieder zur Hand zur nehmen und zu betrachten. Es ist mit ihnen wie mit dieser unglaublichen Plastiktüte, die von einem der Protagonisten aus “American Beauty” dabei gefilmt wurde, wie sie im Wind – schlicht, aber ergreifend – hin und her geweht wurde. Diese Objekte besitzen eine Anmut und Würde, die sich aus dem Einfachen speist. Aber ist damit bereits alles gesagt?
Das erste Mal begegnete mir Geismar auf denkbar beispielhafte Weise. Im Sommer 1991 besuchte ich das Skulpturenmuseum Glaskasten in Marl. Zu diesem Zeitpunkt studierte ich in Bochum Kunstgeschichte und schrieb gerade mal seit gut einem Jahr Kunstkritiken fürs Feuilleton des Westfälischen Anzeigers, Hamm. Der Titel der Ausstellung lautete “A.T.W. Past Present Future”. Offen gestanden war ich damals recht verstört angesichts dieser Fax-Art-Präsentation. In meinem Archiv von Textbelegen finde ich die Geschichte leider nicht mehr. Datenverlust? Das war noch die Zeit, bevor ich computerisiert wurde. Jedoch prägte sich die Ausstellung nachhaltig ein. Denn sie stellte beispielsweise die traditionellen Begriffe von Autorschaft, Originalität und Werk infrage. Geismar organisiert bzw. koordiniert seit 1986 einen losen Bund von Künstlern, aber nicht nur. Kuratoren und Kunsthistoriker waren {sind?} auch dabei. In der Schau sah man Stellwände mit den verschiedenen Beschickungen in ihrer eigenen Ästhetik der nachrichtentechnischen Reduktion auf Schwarz und Weiß. Einfacher konnte man damals keine Inhalte quasi simultan von einem Ort an den anderen transferieren. Und die Inszenierung der Bilder, Poesien und Texte im Marler Museum war gewiss keiner dieser High-End-Parcours, im Sinne des heutigem Ausstellungsdesigns, der mit großen rhetorischen Gesten den Raum verfremdet und bisweilen mehr überwältigt als das Ausgestellte. Also auch hier wieder die Einfachheit auf allen Ebenen. Gerard Goodrow schrieb damals im Katalog, dass A.T.W. dazu beigetragen habe, “transkontinentale, kulturübergreifende Kommunikation auf verschiedenen Ebenen, über gewöhnliche Grenzen und Beschränkungen hinausreichend anzuregen, mit dem Ziel, den Status der Menschheit auf diesem Planeten zu verbessern und positive Impulse auszulösen”. Mit einfachen Mitteln also auf etwas ganz Einfaches wie Essentielles hinzuwirken: das bessere Leben für uns alle. Womit neben der Partizipation noch ein weiteres, inhaltliches Moment der Arbeit angerissen wird, das Geismar gerade in jüngster Zeit umtreibt: das Anliegen der Verantwortung und Verantwortlichkeit.
Meine zweite Begegnung, wieder ein Termin für die Zeitung, fand 1995 statt. Diesmal in Münster, in der Städtischen Ausstellungshalle am Hawerkamp anlässlich der Ausstellung “Im Westen nichts Neues”. Hier zeigte sich mir ein anderes Bild, und auch meine Verwirrung war eine andere. Im großen, zentralen Raum arrangierte Geismar zerschnittene Rohlinge von Ford Scorpio-Chassisteilen zur Installation “Hintereinander und Nebeneinander” bzw. “Übereinander und Untereinander”. Nicht einfach, wie man sich denken kann. Hinzu trat der doch sehr sprechende Titel, der Erich Maria Remarques Roman zitiert. Am einfachsten war diese Verbindung zwischen den Werken und dem Ausstellungstitel noch in der Arbeit “Life is not a chess game” nachzuvollziehen. Vier ausgebrannte Schachspiele standen auf Sockeln. Taktik, Strategie, und doch geht alles in Flammen auf. Dass das Schachspiel ein Bild für die Absurdität von Kriegsführung überhaupt werden konnte, war mir bis dahin nicht in den Sinn gekommen. Und dann gab es da noch die “Unseen Fishes”, eine Bodeninstalltion mit zehn kleineren Aquarien. Darin jeweils eine Wasserpflanze, ich glaube, es waren Vallisnerien, also handelsübliches, einfach zu haltendes Grünzeug für den Hobby-Aquarianer. An der Rückwand stand ein Weinglas, aus dem eine rot gefärbte Flüssigkeit sprudelte. Da bemerkte ich dann zum ersten Mal eine nicht unwesentliche Qualität in Geismars Schaffen: die Poesie. Immer wieder ging mir damals die Frage durch den Kopf, was er meinte. Gewohnt war ich aus den Bochumer Studienjahren vor allem eins Weise der Kunstbetrachtung, die sich vornehmlich am Visuellen orientierte. Max Imdahl begründete durch seine Methode der Ikonik die sogenannte Bochumer Schule. Er suchte nach bildtragenden Evidenzen, die der Ikonografie wie den formalen Eigenschaften eines Bildes gleichermaßen Rechnung trugen und also nach dem wiedererkennenden und sehenden Sehen zum erkennenden Sehen führten. Mit diesem synthetisierenden Vorgehen kam man allerdings bei den Arbeiten von Jårg Geismar nicht weit. Sicher waren die Fahrzeuge jeweils so und nicht anders im Raum verortet. Aber man strafe mich Lügen: Mein Gespür sagte mir, es reiche nicht, die Dinge zu identifizieren, sie in ihrer formalen Anordnung zu analysieren, um dann auf einen unverrückbaren Sinn zu kommen. “Unseen Fishes” sind das beste Beispiel. Über dem fast schon pointenhaften Titel öffnet sich ein Assoziationsfeld mit Blick auf die Materie. Es erweckt den Anschein, als bilde sich das eigentliche Bild bei jedem anders mit Blick auf das Zeug im Kopf. Hier hatte ich dieses seltsame Erlebnis zum ersten Mal. Alle späteren Arbeiten, so wurde mir klar, tragen genau diese semantische Leere in sich, die den Betrachter ermutigt, sie zu füllen. Ganz ähnlich wie beim 1977 gestorbenen Fluxus-Künstler Addi Koepcke mit seinen Appellen “Fill with own imagination”. Genau an dieser Stelle wird es kompliziert, um nicht zu sagen komplex. Und der Grad der Komplexität, den ich verspürte, steigerte sich von Rezeptionserfahrung zu Rezeptionserfahrung.
Als wir uns in Köln begegneten, wohnte ich einem wunderschönen Ereignis bei. Anlass unserer Begegnung war Jårgs Einladung an mich, an einem seiner “Cable Tea”-Veranstaltungen teilzunehmen. Das ganze fand in einem Rohbau in dem noch frischen Mediapark statt. Also ein ungewöhnliches Setting, doch trotz des derben Ambientes erlebte ich eine der wunderbarsten gesellschaftlichen Veranstaltungen überhaupt. Vielleicht sind Sie, meine Damen und Herren, vertraut mit Jårgs Dinners oder Tea Partys. Bereits der Blick auf die Tafel offenbarte, dass hier etwas anders ist als beim herkömmlichen Kaffeklatsch. Wenn ich mich recht entsinne, waren die Gabeln und Löffel mit roten Wäscheleinen verbunden. Und wieder eine Voraussetzung, ähnlich wie schon beim Katalog zu “Friede, Freude, Eierkuchen”: Die Besucher kannten einander in der Regel nicht. Jedoch änderte sich dies recht zügig, da man miteinander kooperieren musste, wenn man denn auch mal einen Happen nehmen wollte.
Nicht ohne Grund ist Jårg Geismar nach 15 Jahren wieder in Kiel mit einer Ausstellung präsent, kehrt er bisweilen gern wieder an die Orte zurück, an denen er bereits tätig war. Der damalige Direktor, Hans Werner Schmidt, ging mit der Präsentation durchaus ein Wagnis ein, denn diese Ausstellung stellte die Rezipienten aus allen Lagern vor eine besondere Herausforderung. Damals erzählte Geismar mir, wie er mit einem Kofferraum voller Dinge mit seinem alten roten Toyota aus dem Rheinland in den Norden der Republik zum Aufbau fuhr. Keine hochspezialisierte Spedition benötigte er, um im Prinzip das gesamte Haus zu bespielen. Es reichte die Ladekapazität eines Kleinwagens, um dem Besucher die Kunsthalle in ganz neuer Ansicht zu präsentieren.
Heute geht es vielfach nicht ohne Kräne und Spezialwerkzeuge, riesige Aufbauteams und Horden von Technikern, um die teils hochkomplexen Installationen zeitgenössischer Künstler adäquat zu realisieren. Säckeweise Kupfergeld hingegen, händisch jede einzelne Münze per Faserstift mit einem Smiley versehen, reichte dagegen Jårg Geismar, um einen riesigen White Cube zu verzaubern. Ein gewisses schwärmerisches Element sei mir in meiner Sprache gestattet, denn schon damals ließ ich mich einnehmen von dem teils überbordenden Einfallsreichtum des Künstlers, selbst aus den ärmlichsten, kleinen Gegenständen – dem Zeug – große Wirkungen zu erzeugen, die überdies noch eine humorvolle, teils ironische Komponente bargen. Wenn Geismar etwa in der Vergangenheit über Skulptur sprach, dann meinte er etwas anderes, als die Kunsthistoriker. 1994 vertraute er im Rahmen des Projekts “Public Copyright” im Kunstverein Düsseldorf Martin Bochynek und Raimund Stecker an: “Es geht mir also eher darum, über bestimmte Themen ins Gespräch zu kommen, obwohl andere das als Skulptur, Zeichnung, Performance, Aktion oder eine raumbezogene Arbeit bezeichnen würden.” An den Begriff des Gesprächs wird zu denken sein.
Wenn es nicht um ein Gespräch geht, geht es vielleicht um einen Monolog, und eine seiner elaboriertesten Formen ist die Interpretation. Jetzt einmal von der anderen Seite gedacht: “Wenn keine ‘Objektivität’ zu haben ist, muss ‘Subjektivität’ aber auch zugelassen, ernst genommen und entwickelt werden – als Chance für jeden jeweils”, schreibt die Freiburger Kunsthistorikerin Angeli Janhsen als letzten Satz ihres Buches “Kunst sehen ist sich selbst sehen. Christian Boltanski, Bill Viola” (Reimer, Berlin 2005, S. 125). Das ist die Voraussetzung für das Verständnis der Erfahrungen, die anhand des Werks von Jårg zu machen sind. Die Bildungsanstalt Museum ist ein guter Prüfstein für die Richtigkeit und Reichweite dieses Satzes. Dort ereignen sich paradoxe Narrationen: Einerseits wird bildende Kunst präsentiert, deren Kardinaleigenschaften nicht eindeutig fixiert werden können, andererseits postulieren bereits formal die Vermittlungsangebote von Katalog bis Führung und Symposien und Malschule, dass Verstehen durch Erklären funktioniert. Sprich: Schwerst subjektive Kunst wird durch den Filter von Fachinstanzen gejagt, um am Ende mit einem Quäntchen objektiven Gehalts die Bedürfnisse des Rezipienten nach “Bildung” befriedigen zu können. Das ist der Normalfall. Und doch betrifft dies unser Thema heute nur zum Teil. Die Schwierigkeiten reichen weiter.
Westliche Zivilisationen haben ein Problem mit der Uneindeutigkeit. Jårg Geismar nicht. In seinem Werk, ich hatte es oben schon angedeutet, entsteht Komplexität als Erfahrung insofern, als der Betrachter mit seinen eigenen Prämissen und auch Vorurteilen und erlernten Voraussetzungen, was Kunst ist und wie sie zu sein hat, kämpfen muss. Also wenn ich ein Aquarium sehe, wenn ich wie in Kiel eine Wand mit Myriaden von Pfennigen, auf denen Smileys aufgezeichnet sind, sehe, dann sollen sie doch symbolisch für etwas stehen. Und so begibt sich der wackere Kunstdeutungsdetektiv in eine Art Falle, wenn er es mit der Ikonografie zu ernst nimmt. Sicher tragen etwa auch die Buddelschiffe im Flandernbunker eine Bedeutung, sicher konstituieren sich Bedeutungsräume in den gezielten Anordnungen und Eingriffen, die Geismar sensibel im Raum unternimmt. Aber eben nicht als eindeutige. Zu verwechseln ist allerdings die Mehr- bzw. Vieldeutigkeit der Dinge in Geismars Werk nun auch nicht mit der theoretischen Unabgeschlossenheit einer Interpretation. Die Reduktion im Prozess der Interpretation widerspricht sowieso der Vielfalt der Erscheinungen. “Eine Anleitung für richtige Antworten kann es prinzipiell nicht geben”, meint Angeli Janhsen zurecht. Es greift vielleicht Umberto Ecos Charakterisierung des “Offenen Kunstwerks”. Doch ist hier nicht nur die “Form” ein “Möglichkeitsfeld”. Das sind ja mittlerweile systemisch implantierte Gemeinplätze, die auch nicht im Falle der Verunsicherung über Geismars Werk weiterhelfen. Und nun komme ich zu meiner eingangs versprochenen These: Genauer lässt sich nämlich die Rolle der Polyvalenz in der Hinsicht fassen, dass die vielen Leerstellen, weit vor den Bedeutungssplittern, die mit jedem noch so einfachen Gegenstand und die in jeder noch so komplexen Installation auffindbar sind, erst das eigentliche Thema sind. Es geht um den assoziativen Raum, der entweder gefüllt wird, und zwar durch mich, den Betrachter, oder als Leerstelle bleibt und im Genuss der Arbeiten erfahrbar wird. Und zwar in Form eines Gesprächs, entweder mit dem Werk oder über es, sofern man nicht allein schaut. Und das ist paradox: Starre Gegenstände evozieren Prozessualität. Vielleicht kommt das dem Kunstwerkbegriff von Heidegger nahe, doch habe ich mich bislang zu wenig damit beschäftigt, um Aussagekräftiges von mir zu geben. Ich bin auf der Spur.
Das letzte Mal, als ich Jårg Geismar von Angesicht zu Angesicht traf, war im August 2009 in Frankfurt nahe dem Museum für Moderne Kunst. Einen ganzen Nachmittag verbrachten wir auf der Terrasse des Museumscafés und brachten uns nach all den Jahren wieder auf den Stand der Dinge. Als Bleibsel – das Über davor lasse ich bewusst fort – hängt neben einem Regal eine mit lässiger Hand gezeichnete Geste mit zwei Linienkäueln in roter Farbe auf Cellophan, das nicht nur durchsichtig ist, sondern auch aus Zellulose besteht und damit abbaubar ist. Einen großen Werkblock mit Zeichnungen dieser Art stellte er ein Jahr später im slowenischen Slovenj Gradec im Rahmen der Ausstellung “unpredictable” aus. Gefragt, wie ich es denn hängen sollte, überließ mir Jårg alle Freiheiten. Ich mag Bilder, die direkt auf der Wand ohne Rahmung hängen, also pinnte ich die Arbeit mit zwei dünnen Nägeln – Restauratoren wird das Grausen kommen – an die Wand. Ich denke auch, dass es der Darstellung besser bekommt, der “Welt” näher zu sein, als sie durch nobilitierende, Erhabenheit produzierende Mittel wie Rahmen zu entrücken.
Um sich den Arbeiten von Jårg Geismar auf weniger persönliche Weise nähern zu können, ist es unabdingbar, ein wenig Kategorisierungsarbeit zu leisten. Strukturell wie materiell existieren nämlich trotz aller Vielfalt eine Reihe von charakteristischen Merkmalen, die sich durch das Werk bis heute ziehen. In diesem Zusammenhang sollte eine Prämisse gesetzt werden: Verabschieden wir uns vom Einzelwerk klassischer Prägung. Sicher, in seinen Komplexitäten gibt es hinreichend Material, um es auch im Einzelnen wahrzunehmen bzw. zu erwerben. Oder ist diese Voraussetzung vielleicht doch zu streng? Wie dem auch sei. Einen Ausgangspunkt für Überlegungen sollte es geben, und stellt sich dieser als falsch heraus, gewinnen wir dennoch Erkenntnisse. Formal sind seine Installationen auch Environments, die quasi recyclend Zeichnungen und besagte Dinge zum Teil mit Videos oder Fotografien verbinden. Performative Momente inklusive Partizipation finden sich genauso (Dinner) wie alltäglich Gesammeltes (Foto, Film), Tagebuchartiges. Er arbeitet mit Blogs und ist in sozialen Netzwerken, etwa Facebook, präsent. Geismar fährt durch Straßen, fotografiert in U-Bahnen auf unspektakuläre Art und Weise. Er ließ Lichtobjekte anfertigen, und zu beinahe jeder Ausstellung lässt er Aufkleber mit dem Titel der Ausstellung und einer Telefonnummer oder anderen Informationen drucken. Das heißt, dass Jårg Geismars Werk so ziemlich alle nur denkbaren Medien bedient, sieht man von so klassischen Techniken wie Ölmalerei oder Steinbildhauerei einmal ab, aber wer weiß schon, was die Zukunft so bringen mag. It’s unpredictable, um einmal eins seiner Projekte zu zitieren. Inhaltliches? Hier wird es schon ein wenig schwieriger. Versucht man hier zusammenfassend vorzugehen, muss man zwangsläufig vor dem überbordenden Themenspektrum kapitulieren. Einige Aspekte habe ich schon angesprochen: Verantwortung beispielsweise. Die Alltäglichkeit ist kategorial ins Werk eingeschrieben und erinnert uns an unsere unmittelbare Gegenwart, womit die Kunst Geismars eine am Menschen orientierte ist. Immer jedoch scheint eine Spannung zwischen den eingesetzten Mitteln und den angespielten Themen zu bestehen. Und, wie bereits angedeutet, baut sie auf Rezipienten, die gewillt sind, sich auf Vieldeutigkeit einzulassen und dem Unerklärlichen eine Chance geben können. Was umso deutlicher hervortritt, wenn man seinen Arbeiten im Museum, dem klassischen Ort der Weihe und Alltagsentrückung seit der weitestgehenden Säkularisierung unserer Gesellschaft, begegnet. Die großen Themen werden neben den kleinen ganz unprätentiös zu Anliegen eines jeden von uns, ohne dass Scheu vonnöten wäre, sich darauf einzulassen oder sich damit zu identifizieren. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht stellen sie uns auf eine Probe und fordern uns auf subtile und freundliche Weise heraus. Das Verstehen in einem traditionellen, hermeneutischen Sinn, der gern auf einen singulären Moment, eine “Kernaussage” abzielt, lässt sich aus einem Einzelwerk nicht ableiten und findet wenn überhaupt erst auf einer oberen Ebene, entfernt von den Phänomenen selbst statt. Für eine Interpretation im klassischen Sinne ist das Erleben und die Präsenz des Selbst vor den Werken – die Subjektivität quasi – wesentlich wichtiger. Das ist für Kunsthistoriker der alten Schule eigentlich ein Grauen.
Dennoch gibt es eine Stringenz, wenn auch eher in der Vielfalt. Das spiegelt sich etwa auch in der fast nomadischen Lebens- und Arbeitsweise von Jårg Geismar. Um den Dingen auf den Grund zu gehen, ist ein Blick hilfreich, wie sich eigentlich Lebenswerke konstituieren. Verschiedene Modellkonstruktionen sind natürlich denkbar. Die am plausibelsten klingende und auch markttauglichste ist immer eine, die sich am Stil bzw. der Entwicklung eines solchen orientiert. Hierbei steht die relative visuelle Einheitlichkeit im Vordergrund. Messbare Kategorien sind wiederkehrende Techniken, die so genannte Handschrift, Farb- und Motivwahl usw. Es geht darum, qua “Handschrift” identifizierbar zu werden und damit unverwechselbar zu sein und zu bleiben. Entwicklungen lassen sich dann anhand der chronologischen Abfolge von Einzelwerken ablesen. Da freut sich der Connaisseur. Es gibt dennoch immer wieder Ausreißer aus diesem Schema. Giorgio de Chirico etwa, der in seinem Spätwerk permanent auf sein frühere Arbeiten in Form der Kopie Bezug nahm. Heute deutet man das Vorgehen als künstlerisches Konzept, wie in der noch bis zum 5.8.2012 laufenden, sehr zu empfehlenden Ausstellung “Déjà-vu. Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube.” in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, trefflich argumentiert wurde. Zuvor tat man dessen stetige Motivrepetitionen als Geldmacherei und Ausgebranntsein ab. Oder Gerhard Richter. Was hat man ihm nicht alles vorgeworfen, weil er mal gegenständlich dann wieder ungegenständlich malte. Erst viel später erkannte man darin intelligente Ansätze, das malerisch Denk- und Realisierbare in verschiedener Weise auch mit Blick auf die Geschichte der Malerei hin auszuloten. Und nun Geismar. Gibt es bei ihm so etwas wie einen Stil? Man müsste sich die Grafiken daraufhin genauer anschauen. Und sicher wird man im vergleichenden Sehen fündig in Sachen Entwicklung auf der Basis von Handschrift, Technik, Material. Und sicher wird man immer den Eindruck bekommen, dass beim Ansichtigwerden von Geschirr in Verbindung mit Wäscheleinen in Ausstellungsräumen man umgehend an Jårgs Arbeiten denken muss. Dennoch bleibt alles im Unüberschaubaren, denn zu vielgestaltig sind seine Agglomerate der Dinge, als dass sie mit derart synthetisierenden Vorgehensweisen zu erfassen wären. Und selbst wenn er Arbeiten bisweilen wieder zitiert. Wer mir gesagt hätte, Geismar arbeite jetzt mit Buddelschiffen, dem wäre ich mit einem achselzuckenden “Klar, warum nicht” begegnet. Das Einfache wird eben immer kompliziert, wenn man sich den Blick in Rastern angewöhnt. Was heißen soll, dass ich mit meinen vielleicht etwas stammelnden Annäherungen immer noch nicht allzu weit gekommen bin.
Der implizite Vorwurf aus dem Depeche Mode-Zitat, demgemäß das Einfache das Einfachste sei, wäre damit im mindesten erledigt, dass “simplicity” “best” sei hat sich hoffentlich bestätigt. Ist doch klar: Einfach kompliziert eben.
Aus dem Kontext gerissen. Das Schlusswort überlasse ich Jårg Geismar selbst. Das Zitat findet sich im Katalog der bereits erwähnten Münsteraner Ausstellung “Im Westen nichts Neues”. Eine abgedruckte Handschrift schreibt dort: “‘Das große wie das kleine Kino’ der Menschen. Alles passiert im Großen genauso wie im Kleinen.”