Jubilare müssen bisweilen postum erdulden, dass aus Marketinginteresse der Verlage eine Unmenge von Büchern den Markt überschwemmen, die das Ziel verfolgen, selbst komplexe Werke von historischen Autoren auf den kleinsten gemeinsamen Nenner von Merkantilität und Inhaltlichkeit zu reduzieren. Meist sind es wieder aufgelegte Kompilationen ohnehin leicht zugänglicher Texte, und wenn der Leser Glück hat, bekommt er nicht nur ein hübsch aufgestyltes Druckwerk, sondern gelegentlich einen aller Wahrscheinlichkeit selbst schon historischen Kommentar, noch seltener einen kritischen Apparat geliefert. Das „Rousseau-Brevier.“ hingegen verdankt sich einem anderen Impuls, selbst wenn es 2012, also im 300. Geburtsjahr des französischsprachigen Schriftstellers, Philosophen, Pädagogen, Naturforschers und Komponisten der Aufklärung erschienen ist. Es mag sein, dass der Titel den Gedanken des potenziellen Käufers auf jene Häppchenware lenkt. Er sieht sich dann wohl enttäuscht, denn wer in drei Sätzen das Leben und Werk Rousseaus durch Bernhard H. F. Taureck und Friedrich Herb kondensiert erwartet, hat ins falsche Regal gegriffen. Die beiden Philosophen haben vielmehr nichts Geringeres unternommen, als Teile von Schlüsseltexten Rousseaus auf ihre Kerngedanken hin zu betrachten, um daraus ein komplexes aber jederzeit nachvollziehbares Storyboard zu entwickeln, mit dem der Leser sich das Gedankengebäude des rigorosen Bekenners und Selbstanalytikers zu erschließen vermag. Taureck kommt hierbei das Verdienst zu, die von ihm besprochenen Auszüge selbst übersetzt zu haben.
„Über ein Brevier hinaus“ weiterlesenOkwui Enwezor ist künstlerischer Leiter der nächsten Biennale von Venedig
Okwui Enwezor, Direktor am Haus der Kunst, München, und künstlerischer Leiter der Documenta 11, ist zum künstlerischen Leiter der der 56. Biennale di Venezia (2015, Venedig, Giardini und Arsenale, 9. Mai – 22. November) ernannt worden. Paolo Baratta, Biennale-Präsident, kommentierte seine Ernennung mit den Worten: „Okwui Enwezors Forschungsschwerpunkt liegt auf dem komplexen Phänomen der Globalisierung und ihren Bezügen zur Verwurzelung im Lokalen. Seine persönliche Erfahrung ist Ausgangspunkt für das geografische Spektrum seiner Analysen, für zeitweiliges Vertiefen von jüngsten Entwicklungen in der Kunstwelt, und für Vielfalt und Reichtum der Gegenwart.“ Der 1963 geborene Enwezor rühmt die Institution: „La Biennale di Venezia ist der ideale Ort um dialektische Bezüge zu erkunden, und die Institution der Biennale selbst wird während der Vorbereitung der Ausstellung eine Quelle der Inspiration sein.“
Im Sog der Repräsentationslogik des White Cube
Im Jahr 2001 startete Michael Mandiberg seinen „Shop Mandiberg“ und erzielte in kurzer Zeit größte Aufmerksamkeit. Der Gedanke, das komplette Hab und Gut über eine für damalige Verhältnisse professionelle Oberfläche zu veräußern, hatte etwas bezwingend Widerständiges mit Blick auf den seit ca. 1997 florierenden kommerziellen Bereich des Webs. Der Ende 2001 geschlossene Internet-Laden ist immer noch zu besuchen.[1] So kann man sich beispielsweise die verkauften Artikel ansehen.
Und weiter ging es mit sehr spannenden Einfällen, etwa der Auseinandersetzung mit Appropriation Art auf „AfterSherrieLevine.com“.[2] Derlei Konzepte spiegelten die bis dato recht unausgegorene Vorstellung über den Status des Originals oder des Werkbegriffs im Allgemeinen und öffneten durch die Möglichkeit des Downloads relativ hochaufgelöster Daten die Frage nach dem Urheber selbst der Konzepte. Bin ich als User, der sich das Portfolio lädt und adäquat ausprinten lässt, diese Bilder exponiert, nicht auch Bestandteil eines kollektiven, schöpferischen Prozesses? Eine Leerstelle, die Sherrie Levine, deren Werk zum Beispiel den Zweck erfüllen sollte, die Ehrfurcht vor den in der Regel männlichen Heroen der Kunstgeschichte zu verlieren, um Bild-Autor-Relationen besser untersuchen zu können, aufgrund ihrer noch der personalen Identität des Künstler_innenbegriffs verschriebenen Konzeptualität nicht zu füllen vermochte.
Spannend gleichfalls sein „Essential Guide“ (2002), der beschreibt, wie man sich Mandibergs Identität aneignet.[3] Gleichfalls das Visualisierungsplugin, das die C02-Produktion von Reisefirmen in deren Webseiten einspiuegelte („Real Costs“, 2007), überzeugte durch ein treffsicheres Konzept in Form einer Intervention.[4] Allerdings erwecken jüngere Arbeiten den Eindruck, als habe sich der Einfallsreichtum erschöpft. Heute entstehen Werke wie „Ransom Money, 1 Million Iraqi Dinar in a Zero Haliburton Case“ von 2012[5], das auf materiell-symbolischer Ebene wie ein konventionelles Konzept kanonisch angewandter Strategien anmutet und ein schickes Objekt für den White Cube darstellt. Damit folgen derartige Arbeiten der normierten Repräsentationslogik des Kunstsystems. Eigentlich erstaunlich, wenn man an die bereits historischen Arbeiten denkt.
[1] S. http://mandiberg.com/shop/.
[2] S. http://aftersherrielevine.com sowie http://www.afterwalkerevans.com.
[3] S. http://turbulence.org/Works/guide/.
[4] S. http://therealcosts.com/.
[5] S. http://www.mandiberg.com/ransom-money/.
Zwiebelhäute der Unfreiheit
Wollen sie in einer Gesellschaft leben, in der Ihnen Haushaltsgeräte, etwa eine elektrische Zahnbürste, diktieren, wie lange sie putzen oder sonst etwas tun müssen? Sie können einwenden, man müsse nicht auf das kleine, scheinbar hilfreiche Feature achten, das im Falle des Geräts, das der Autor verwendet, alle 30 Sekunden vibriert und nach nur zwei Minuten mit einem etwas längeren Endrüttler zu verstehen gibt, dass man sein Soll erfüllt habe. Abgesehen davon, dass es sicher sinnvoller gewesen wäre, die Entwicklung kluger Akkus zu forcieren, als ein solches Gimmick einzubauen, ist das Ignorieren derartiger Gängeleien sowieso nur mit wenig Erfolg beschieden. Sie werden, da gehe ich jede Wette ein, unter solchen Putzbedingungen konditioniert, kontrolliert, strukturiert. Der Schreiber hier weiß, wovon er schreibt. Und wird wieder einmal an das kleine Foucaultsche Einmaleins der Disziplinar- und an Deleuzes Kontrollgesellschaft erinnert.
„Zwiebelhäute der Unfreiheit“ weiterlesenHeaven 7 in Obersendling
Am vergangenen Donnerstag besuchten wir die Eröffnung von „Heaven 7“, dem Gartenprojekt von FLATZ auf seiner Dachterrasse im Obersendlinger Kistlerhofareal. Hier ein paar bildliche Eindrücke.
Update 25.10.2024: Im letzten Satz hatte ich 2013 meinen Flickr-Pro-Account verlinkt. Den gibt es seit Jahren nicht mehr. Daher habe ich den Link entfernt.
Alte Meister und Allan Sekula
Im vergangenen Monat erlebte ich die wunderbare Arbeit der Kuratoren der Alten Pinakothek, München, wie sie Teile der Bestände der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in ihr Haus führten und zu einer fantastischen Ausstellung über Typologie, Präfiguration und Darstellungen des Alten Testaments zusammen komponierten. Meine Rezension unter dem Titel „Ein Netzwerk der Verheißungen“ dazu im artmagazine.cc.
Allan Sekula war ein engagierter Künstler, der ein höchst spannendes Werk hinterlässt. Er starb am 10. August. Einen Nachruf habe ich für das artmagazine.cc verfasst.
Surrealer Handelsplatz
Amazon verkauft jetzt als Zwischenhändler Kunstwerke. Eigentlich war es nicht anders zu erwarten, dass sich der Branchenriese aus Seattle diesen Markt auch noch erschließen wollte. Aber ist es ihm gelungen? Stellt diese Online-Plattform eine Alternative zu bestehenden Anbietern dar?
„Surrealer Handelsplatz“ weiterlesen
Reduktion mit politischem Teewürfel
In assoziativer Anwendung des Begriffs «Minimal» zeigt das Neue Museum, Nürnberg, eine in Teilen höchst amüsante Ausstellung mit Werken von Künstlern, die sich mit dem Geometrismus, aber auch mit der Minimal Art auseinander setzen. Die Gestaltung der Räume besorgte Gerwald Rockenschaub. Wer nach Nürnberg kommt, sollte sich die Schau nicht entgehen lassen. Hier meine Rezension fürs artmagazine.cc.
QOTD: Parker Ito
Parker Ito (per E-Mail): «Saying net art is just like saying contemporary art».
Herkules im Olymp
Kassel. Das Welterbekomittee der UNESCO hat in seiner Sitzung am 23. Juni in Phnom Penh, Kambodscha, beschlossen, den Bergpark Wilhelmshöhe in Kassel in die Liste des Kultur- und Naturerbes der Welt aufzunehmen, berichten Sprecher der Museumslandschaft Hessen Kassel. Das Komitee schätzt das Ensemble «als einzigartige Kulturlandschaft» ein: Die Experten würdigten die Kasseler Wasserspiele als «außergewöhnliches und einmaliges Beispiel monumentaler Wasserbaukunst des europäischen Absolutismus». Als Erbe der Menschheit gilt nun gleichfalls die monumentale Herkulesfigur. Sie sei technisch und künstlerisch die anspruchsvollste Großskulptur der Frühen Neuzeit. «An keinem anderen Ort der Welt sei jemals eine am Hang gelegene Parkarchitektur mit vergleichbaren Ausmaßen und einer technisch so vollkommenen Wasserarchitektur ausgestattet worden, wie in Kassel seit 1691 unter Landgraf Karl», zitiert das Museum die Einschätzung der UNESCO.
Der Bergpark Wilhelmshöhe ist die 38. Welterbestätte in Deutschland. Seit 2007 arbeitete Kassel an dem Antrag zur Aufnahme, der 18. Januar 2012 der UNESCO in Paris übergeben wurde. Die UNESCO-Liste des Welterbes umfasste im Juli 2012 insgesamt 962 Denkmäler in 157 Ländern. Davon waren 745 als Kulturdenkmäler und 188 als Naturdenkmäler gelistet, weitere 29 Denkmäler wurden sowohl als Kultur- als auch als Naturerbe geführt.
(c) Foto: MHK
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